Ilenia Piccioni / Antonio Tiso: Kurdistan

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Kudo21
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Ilenia Piccioni / Antonio Tiso: Kurdistan

von Kudo21 am 06.12.2011 11:09

Die Autonome Region Kurdistan ist wohl die einzige Gegend im Irak, die für die Zeit nach Saddams Sturz eine weitgehend positive Bilanz ziehen kann – wobei das selbstsichere Auftreten der Kurden auch Ressentiments unter anderen Bevölkerungsgruppen hervorgerufen hat. Ilenia Piccioni und Antonio Tiso fotografierten Symbole des Aufschwungs.

Schon seit gut vier Dekaden behaupten die kurdisch besiedelten Gebiete im Nordirak ein Mass an Unabhängigkeit. Am 11. März 1970 wurde ein Abkommen unterzeichnet, das den Provinzen Erbil, Dohuk und Suleimaniya Teilautonomie und eine entsprechende Vertretung in der irakischen Regierung zugestand. Der offiziösen Akzeptanz dieser Sonderrechte – der Irak verstand sich ausdrücklich als "Staat zweier Nationen", in dem die Kurden auch ihre Sprache und Kultur pflegen durften – stand jedoch die Tatsache entgegen, dass die effektive Macht nach wie vor ganz in den Händen Bagdads lag. Wie man dort dem kurdischen Brudervolk faktisch gegenüberstand, zeigte sich am Ende des Ersten Golfkriegs zwischen Iran und Irak: Beim Giftgasangriff auf Halabja im März 1988 kamen gemäss Schätzungen bis zu 5000 Menschen – mehrheitlich Kinder, Frauen und alte Männer – ums Leben, eine wesentlich höhere Zahl erlitt dauerhafte Gesundheitsschäden.

Nach dem Zweiten Golfkrieg richtete die Uno 1991 eine Schutzzone im Nordirak ein, die den Kurdengebieten faktisch die Autonomie bescherte – allerdings noch nicht den Frieden, da sich die beiden wichtigsten Parteien, die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) über längere Zeit erbittert bekämpften. Durch ihren Sonderstatus entging die Region jedoch den Verwüstungen, die der amerikanische Einmarsch im Jahr 2003 und die darauf folgenden gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen religiösen und politischen Faktionen über den Rest des Iraks brachten. Zunehmend wichen nationale und internationale Unternehmen in den Norden aus, der infolgedessen und dank seiner unabhängigen Vermarktung der reichen Ölvorkommen einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte.

Die 1975 geborene italienische Fotojournalistin Ilenia Piccioni hat die kurdischen Autonomiegebiete dieses Jahr gemeinsam mit ihrem gleichaltrigen Kollegen Antonio Tiso besucht. Die beiden teilen nicht nur das Geburtsjahr, sondern auch den Werdegang: Beide wechselten nach einem Politologiestudium zur Fotografie, arbeiteten zunächst als unabhängige Fotografen und gründeten vergangenes Jahr zusammen die Agentur Molo7 Photo Agency (http://www.molo7photoagency.com/). Das junge Team äussert im Begleittext zu seiner Reportage unverhohlene Begeisterung über die Sicherheit, die Stabilität und den Wohlstand in der Region: "Junge Leute finden neue Arbeitsmöglichkeiten, Frauen emanzipieren sich Schritt für Schritt. Frischgebackene Unternehmer eröffnen kleine und grosse kommerzielle Betriebe, etwa Luxushotels oder Restaurants und Cafés im westlichen Stil. Die Nationalflagge weht allenthalben. Die Kurden sind stolz auf ihre Unabhängigkeit, weil sie ein Synonym für Entwicklung ist."

So weit, so richtig; allerdings scheinen die beiden weitgehend auszublenden, dass sich hinter den von Ordnung, Freiheit und Wohlstand zeugenden Impressionen, die sie eingefangen haben, doch auch noch einiges Spannungspotenzial verbirgt. Während die Kurden zu Saddam Husseins Zeiten durch gezielte Ansiedelung von Arabern in ihrer Heimatregion unter Druck gesetzt wurden, sind es heute umgekehrt die in der Gegend wohnhaften Turkmenen und Araber, die sich durch die Vormachtstellung der Kurden bedroht fühlen. Die von der kurdischen Regierung im Alleingang – und im offenen Kollisionskurs mit Bagdad – getroffenen Vereinbarungen über die Vergabe von Erdölkonzessionen wie auch das immer noch ausstehende Referendum über die Zugehörigkeit des von Kurden, Turkmenen und Arabern gleichermassen beanspruchten erdölreichen Kirkuk sind dauerhafte Konfliktpunkte. Korruption, Vetternwirtschaft und Autoritarismus grassieren in der KDP wie der PUK in einem Mass, dass die beiden politischen Schwergewichte im Sommer 2009 recht erfolgreich von der oppositionellen Formation Goran (kurdisch für "Wechsel") herausgefordert wurden. Bei aller Anerkennung der errungenen Fortschritte: Auch die Autonome Region Kurdistan hat wohl noch ein Stück Weges zu gehen.



Die bürgerkriegsähnlichen Zustände in den anderen Landesteilen und die eigenständige Vermarktung der Ölvorkommen liessen die Autonome Region Kurdistan zum wirtschaftlichen Schrittmacher Iraks werden. Ilenia Piccioni und Antonio Tiso fotografierten in der Provinzhauptstadt Erbil, die sich im neuen Glanze sonnt.



Erbil gehört zu den ältesten durchgehend besiedelten Orten der Welt. Mächtig dominiert die auf einem Hügel gelegene osmanische Zitadelle das Herz der Stadt, bewacht von der Statue des 1239 verstorbenen Chronisten und Dichters Ibn al-Mistaufi. Die relative Sicherheit der kurdischen Autonomiegebiete hat Erbil auch schon erste Touristen gebracht: Ilenia Piccioni war nicht die Einzige, die zu Füssen des Gelehrten die Kamera zückte.


Die kurdischen Autonomiegebiete wollen ihrer Lage an der «Seidenstrasse unter den Flugrouten» gerecht werden. 2003 wurde der neue Flughafen von Erbil eröffnet; obwohl in einer Rekordzeit von knapp 6 Monaten erstellt, sollte das Projekt technische Leistungsfähigkeit, modernen Komfort und Umweltverträglichkeit vereinen



Als ein Exempel ländlicher deutscher Baukunst würde man dieses Doppelhaus nicht unbedingt rubrizieren; doch steht es im «Gundi Almani» (Deutsches Dorf) genannten Wohnquartier im Norden Suleimaniyas, der am schnellsten wachsenden Stadt im kurdischen Nordirak.



Ob die beiden nun einen Trauschein vorzuweisen haben oder nicht – in Minar-Park in der Provinzhauptstadt Erbil wird ihnen kaum jemand mit dieser Frage die Hölle heiss machen. Der kurdische Nordirak gehört zu den eher säkularen und toleranten Regionen im Mittleren Osten; allerdings hatte und hat man hier seit dem Sturz Saddams dafür mit der ethnischen Gemengelage zu kämpfen. Doch Antonio Tiso und Ilenia Piccioni haben auf ihrer Reportagereise den Akzent aufs Positive gelegt.

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