Jahrzehntelang haben sich Türken und Kurden bekriegt. Nun wollen sie sich versöhnen – aber schaffen sie das?

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Kudo21
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Jahrzehntelang haben sich Türken und Kurden bekriegt. Nun wollen sie sich versöhnen – aber schaffen sie das?

von Kudo21 am 18.02.2013 23:05


Türkisches Militär in der Nähe des Stützpunkts Gecimli, der im August 2012 von kurdischen Milizen angegriffen wurde.

Es ist schwer, hier über Frieden zu reden. Servet Öner steht auf der alten Mauer von Diyarbakr, einer kurdischen Stadt im Südosten der Türkei. Hoch über ihrem Kopf steigt ein türkischer Kampfjet auf, um in den Kandil-Bergen an der irakischen Grenze Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu bombardieren. Öner ist eine kurdische Aktivistin, 33 Jahre alt, hochgewachsen, ohne Kopftuch über ihrem schwarzen schulterlangen Haar. Freundschaft mit den Türken? Vielleicht, sagt sie – »wenn sie aufhören, uns zu bombardieren, und beginnen, uns als ebenbürtig zu betrachten«.

Der türkische Premier Tayyip Erdoğan hat versprochen, Kurden und Türken miteinander auszusöhnen. Ein kühnes Projekt nach Jahrzehnten des Krieges. Darum sprechen türkische Geheimdienstagenten und kurdische Politiker neuerdings mit dem einsamsten Gefangenen Anatoliens: dem Kurdenführer Abdullah Öcalan, der seit 1999 auf einer Insel inhaftiert ist. Vor Jahren wollte Erdoğan ihn noch hängen lassen, jetzt lässt er mit ihm verhandeln. Erdoğan muss Kompromisse machen: Er braucht Ruhe im Osten, der Krieg in Syrien bedroht auch die Türkei. 2014 möchte sich der Premier zum Präsidenten wählen lassen. Bis dahin soll der historische Ausgleich zwischen den Nationalisten beider Seiten geschafft sein. Wie sähe es aus, wenn Türken und Kurden Freunde wären?

Von der Höhe der alten Festungsmauer aus zeigt Servet Öner auf ihre Stadt. Die Wintersonne scheint auf das dunstige Durcheinander aus flachen Wohnhäusern, Armenhütten, Minaretten, der Ulu-Moschee und der großen Herberge an der alten Karawanenstraße. Diyarbakr ist schnell gewachsen, aber weniger entwickelt als türkische Städte. »Kurdisches Land«, sagt Öner stolz. Die Stadt hat statt Industrie Kleinhandel und Hühnerzucht im Hinterhof. Knapp eine Million Menschen leben hier, viele sind vom Krieg gezeichnet, die meisten arbeitslos. Die wenigen Türken, die hier leben, arbeiten als Richter, Polizisten, Soldaten. Und natürlich ist der Gouverneur Türke. Ankara hat ihn geschickt. Oben die Türken, unten die Kurden, so ist das in Diyarbakr.

Das Volk der Kurden ist viergeteilt, Kurden leben in der Türkei, im Iran, im Irak und in Syrien. In der Türkei haben sie seit der Staatsgründung im Jahr 1923 rebelliert. Der türkische Staat bekämpfte lange Zeit Sprache und Kultur der Kurden und bestritt ihr Recht auf eine nicht türkische Identität. Wenn Servet Öner über ihre Vorstellung von einem freien Kurdistan spricht, dann geht es nicht um Grenzen. Sie will, »dass die Kurden in allen Staaten in Freiheit leben« – ohne Verfolgung durch Richter und Soldaten.

Die Kindheit ist kurz in Kurdistan

Wenn sie erzählt, wirkt sie fröhlich, sie lacht so laut, dass die Leute sich umdrehen. Hinter der Fröhlichkeit verbirgt sich ein Leben im Kampf. Als Kind wurde sie von der türkischen Armee aus dem Heimatdorf vertrieben. Soldaten zwangen die Familie, Hals über Kopf das Haus zu verlassen, sie brannten das Dorf ab. Vater, Onkel, Brüder wurden gefoltert, damit sie die Namen von PKK-Kämpfern preisgaben. Die Familie floh auf Karren und Lastwagen in Richtung Diyarbakr. »Man ist schnell kein Kind mehr in Kurdistan«, sagt sie. In Diyarbakr rekrutierte die PKK ihren Nachwuchs unter den Verzweifelten und Entrechteten. Mit 15 Jahren ging Öner in die Berge, zur Guerilla der PKK. Mit einer engen Freundin kam sie in ein Ausbildungslager. Frauen werden in der PKK als Kämpferinnen geehrt. Auf der Flucht vor Luftangriffen mussten sie oft den Ort wechseln. Ihre Freundin fiel.

Öner kam heimlich nach Diyarbakr, um sich im Krankenhaus behandeln zu lassen. Sie wurde verraten und verhaftet. Sechs Jahre lebte sie mit rund fünfzig Frauen in einem Frauengefängnis. Dort geschah ein kleines Wunder: Die PKK schmuggelte Bücher ins Gefängnis. Öner las Gedichte des persischen Dichters Omar Khayyam, Romane von Thomas Mann und Geschichtsbücher. Die Zelle wurde zum Lesesaal. »Meine Universität«, flachst sie. Öner denkt links, sie bewundert die Arbeiterbewegung in Europa und hasst den Kolonialismus. Dem türkischen Premier nimmt sie seinen neuen kurdenfreundlichen Kurs nicht ab. »Er will hier König sein, aber ohne bewaffnete Opposition.«

Tayyip Erdoğan hat die Kurden schon oft enttäuscht. Auf Öffnung ließ er Härte folgen, auf kurdischen Sprachunterricht Militäroffensiven. Nun macht er den PKK-Kämpfern ein neues Angebot: Wenn sie die Waffen niederlegen und das Land verlassen, sollen sie freies Geleit bekommen. Öcalan könnte von seiner Insel in den Hausarrest entlassen werden. Ein neues Gesetz erlaubt Kurden, sich in ihrer Muttersprache vor Gericht verteidigen zu lassen. Die Regierungspartei möchte die Selbstverwaltung der Städte stärken. Erdoğan spricht viel von kurdischen »Brüdern«, manchmal sogar von »Schwestern«. Kleine Schritte.

Doch die Verfolgungen gehen weiter. Sie sollen den Druck auf die Kurden erhöhen. Die Armee liefert sich harte Gefechte mit der PKK. Im vorigen Jahr wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation IHD 4.418 Kurden verhaftet, jeder Zehnte von ihnen war jugendlich. In den Gefängnissen sitzen Studenten, weil sie demonstriert, Journalisten, weil sie berichtet, Bürgermeister, weil sie regiert haben. Das türkische Antiterrorgesetz macht jeden politisch interessierten Kurden zum potenziellen Straftäter.

Eines ärgert Servet Öner besonders: Viele Türken sehen die Kurden nicht als eigenständiges Volk mit gleichen Rechten, sondern nur als »Brüder und Schwestern« der Türken. »Freunde« wäre schon besser, seufzt sie. »Den Bruder kann man sich nicht aussuchen.« Wer Bruder sage, meine oft Unterdrückung; die Familie betrachtet Öner als Miniaturausgabe der staatlichen Hierarchie: oben der Patriarch, dann der große Bruder, unten die jüngeren Geschwister. Genauso funktioniere die Türkei seit 1923. »Die Kurden wurden assimiliert, ihre Kultur und Sprache negiert, sie wurden zu Brüdern und Schwestern erklärt.« Eigentlich seien sie nur Stiefgeschwister, sagt Servet Öner.

»Freundschaft geht nur auf absolut gleicher Ebene«, sagt Öner – und volle Gleichberechtigung sei es, was die Kurden wollen. Die größte kurdische Partei BDP, die viele Türken als politischen Arm der PKK sehen, fordert »demokratische Autonomie«. Der Gouverneur solle nicht aus Ankara geschickt, sondern in Diyarbakr gewählt werden. »Wir wollen gewählte Gemeinderäte und Regionalparlamente«, sagt die BDP-Co-Vorsitzende in Diyarbakr, Zübeyde Zümrüt. Dann könnten Kurden und Türken Freunde werden.

Das klingt aus deutscher Sicht nach harmlosem Föderalismus. Doch die Türkei ist ein Vielvölkerstaat. Viele Politiker fürchten einen Zerfall des Landes, sobald das erste frei gewählte Regionalparlament tagt. Die BDP ist den nationalistischen Parteien im türkischen Parlament verhasst, weil sie in ihr die PKK mit Krawatte oder Kostüm sehen. Bis vor Kurzem erwog Erdoğan ein Parteiverbot.

Im Nordirak haben die Kurden einen eigenen Staat

Viele Kurden denken wiederum erheblich radikaler als die große Kurdenpartei im Parlament. »Wenn der türkische Staat das Problem in den nächsten zehn Jahren nicht löst, wird sich die nächste Generation der Kurden abspalten.« Der Anwalt Mehmet Emin Aktar kommt gerade aus dem Gefängnis zurück, wo er zwei seiner Klienten besucht hat. Lange Zeit war er der Chef der Anwaltskammer von Diyarbakr. Aus seiner Sicht brauchte es mehr als nur gewählte Stadtparlamente, damit von Freundschaft zwischen Türken und Kurden die Rede sein könnte. Aktar findet es erniedrigend, vor türkischen Richtern zu stehen, von türkischen Polizisten kontrolliert zu werden. Er möchte, dass diese Berufe von Kurden ausgeübt werden. Dass Kurdisch zur Amtssprache im Südosten wird. Dass die Türken in Ankara aufhören, in diesem Teil des Landes alles regeln zu wollen. Aktar hat ein Modell für echte Gleichberechtigung vor Augen: die Autonome Region Kurdistan im Nordirak.

Dort ist nach dem Sturz von Saddam Hussein 2003 ein kurdischer Staat entstanden. Mit einem eigenen Parlament, eigener Gerichtsbarkeit, eigenem Präsidenten, eigener Polizei und Armee. Obendrein haben die irakischen Kurden einen großen Schatz unter der Erde: Öl- und Gasquellen. Ihr Verhältnis zur Hauptstadt Bagdad ist zerrüttet. Sie können sich mit der schiitisch beherrschten Zentralregierung nicht über die Aufteilung der irakischen Rohstoffe einigen.

Freundschaft und Freiheit gehören zusammen

Man könnte meinen, Ankara würde mit Bagdad gegen die Kurden Front machen. Doch so simpel ist der Nahe Osten nicht. Denn im Nordirak können Kurden und Türken sehr wohl miteinander. Die irakischen Kurden exportieren ihr Öl und Gas über die Türkei in die Welt. Die Türken liefern im Gegenzug Autos, Waschmaschinen und Klimaanlagen nach Irakisch-Kurdistan. Der Außenminister reist gern ins irakische Kurdengebiet. Auf dem AKP-Parteitag 2012 in Ankara umarmten sich Erdoğan und der irakisch-kurdische Präsident Massud Barsani, der eingeladen war. Als gleichberechtigte Politiker mit gemeinsamen Interessen.

Als es dämmert in Diyarbakr, bricht Servet Öner auf. Sie geht ein paar Umwege durch die verwinkelte Altstadt, so, als wolle sie Verfolger abschütteln. Wirkliche Gleichberechtigung und Freiheit, sagt sie, habe sie nur in den Bergen erfahren, unter den Kämpfern der PKK. Natürlich sei das Leben in den Bergen eine Ausnahmesituation. Aber man könne davon lernen. »Echte Freundschaft hängt unmittelbar mit Freiheit zusammen«, sagt sie. Freundschaft könne nur entstehen, wenn man freiwillig bleiben oder gehen kann. Und das wünscht sie sich für Kurden und Türken.

Servet Öner blickt sich noch einmal kurz um und verschwindet in einem unbeleuchteten Hauseingang. Seit kurzer Zeit steht sie wegen ihrer Ansichten wieder auf der Fahndungsliste der fleißigen türkischen Justiz.

Quelle

Antworten Zuletzt bearbeitet am 19.02.2013 15:55.

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