Im Rebellenland
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GulaKurdistane
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Im Rebellenland
von GulaKurdistane am 04.12.2010 02:27Wie »Dersim« (Silbertor) zu »Tunceli« (Kupferfaust) wurde: Eine kurdisch-alevitische Region in der Osttürkei kämpft um ihre Identität und ihr Überleben
Von der mesopotamischen Ebene führt die Reise kurz hinter der stickigen Provinzstadt Elazig über den Keban-Stausee. Eine Art felsiger Kegel ragt in dessen Mitte aus dem Wasser, eine ehemalige, nun zur Insel gewordene Bergspitze, gekrönt von der Burg Pertek. Die Fähre, auf der wir das eigentümliche Gebilde passieren, transportiert neben Reisebussen auch Militärlastwagen aus deutscher Fabrikation, an denen Artilleriegeschütze angekoppelt sind.Auf der anderen Seeseite wird der Konvoi von zwei Panzern an einem Checkpoint der Jandarma, der Militärpolizei, in Empfang genommen. Hier, wo das Bergland an das aufgestaute Wasser des Euphrat grenzt, beginnt Dersim – das »Terroristengebiet«, wie die Soldaten sagen. Einschüsse an Straßenschildern und Parolen der kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Maoisten an den steilen Felswände neben der Straße zeigen, daß hier Rebellenland ist – und das ganz konkret: Mit Straßensperren haben Guerilla-Verbände in den letzten Monaten ihren Anspruch auf ein »autonomes Kurdistan« demonstriert.
Auf keiner Karte
Dersim bedeutet in der kurdischen Zazaki-Sprache Silbertor. Doch dieser Name findet sich heute auf keiner türkischen Landkarte. Mitte der dreißiger Jahre wurde die in den nördlichen Ausläufern des Osttaurus gelegene Provinz zwischen anatolischem und Ararat-Hochland, Obermesopotamien und den Bergen des Schwarzen Meeres von der türkischen Regierung in Tunceli umbenannt. Das bedeutet »Kupferfaust« – die Faust des Staates, die bis heute gegen die widerspenstigen Bewohner der Provinz mit ihren bis zu 3300 Meter hohen Bergen geschwungen wird.
Schon im Osmanischen Reich hatte Dersim seine Autonomie bewahren können. Die Bewohner führten kaum Steuern an den Staat ab, verweigerten sich dem Militär, kämpften weder im Krimkrieg noch im Ersten Weltkrieg und dem anschließenden Unabhängigkeitskrieg. Von der Mehrzahl der Kurden der Nachbarprovinzen unterscheiden sich die Dersimer durch das Zazaki und ihren alevitischen Glauben, der islamische, naturreligiöse und altorientalische Elemente zu einer humanistisch geprägten Lehre verbindet. Mit schiitischen Muslimen teilen die Aleviten die Verehrung von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohamed. Doch beten bei den Aleviten Männer und Frauen gemeinsam, Alkohol ist erlaubt und religiöse Zeremonien werden nicht in Moscheen, sondern zu Hause oder in sogenannten Cem-Häusern praktiziert. Dies hat den Aleviten bis heute die zum Teil blutige Verfolgung durch strenggläubige Muslime eingebracht.
Mitte der 1930er Jahre galt Dersim als »letzte freie Burg« der Kurden. In unzugänglichen Berghöhen waren die kleinen Dörfer der Kontrolle des Staates weitgehend entzogen. Staatschef Mustafa Kemal, genannt »Atatürk«, forderte daher uneingeschränkte Autorität für seine Regierung, »damit diese die innere Wunde, dieses abstoßende Krebsgeschwür um jeden Preis beseitigen und auslöschen kann«. Aufgrund eines Ende 1935 verabschiedeten Tunceli-Gesetzes wurde der Belagerungszustand über die Provinz verhängt. Gegen ihre vom Militärgouverneur Abdullah Alpdoan geforderte Entwaffnung wehrten sich einige Rebellen im Juni 1937 mit einem Angriff auf Polizisten – der Startschuß zum Volkswiderstand. Ihm schlossen sich unter Führung des alevitischen Geistlichen Seyid Riza bald bis zu 80000 bäuerliche Partisanen an, um ihre Autonomie zu verteidigen.
Atatürks Tochter
In einer geheimen Sitzung beschloß die Regierung die Operation »Züchtigung und Deportation«: »Wenn man sich lediglich mit einer Offensivaktion begnügt, werden die Widerstandsherde fortbestehen. Aus diesem Grund wird es als notwendig betrachtet, diejenigen, die Waffen eingesetzt haben und einsetzen, vor Ort endgültig unschädlich zu machen, ihre Dörfer vollständig zu zerstören und ihre Familie fortzuschaffen.« Am Steuer eines der Flugzeuge, die 50-Kilo-Bomben auf Bauerndörfer abwarfen, saß die erste türkische Pilotin Sabiha Gökcen. Nach der Adoptivtochter Mustafa Kemals, die aufgrund solcher Taten zum Symbol der »modernen türkischen Frau« wurde, ist heute ein Istanbuler Flughafen benannt.
Die grünen Täler Dersims füllten sich mit Giftgas. Frauen und Kinder, die sich in Berghöhlen gerettet hatten, wurden lebendig eingemauert. Andere stürzten sich von den Felsen in den Munzur-Fluß, um ihrer Vergewaltigung zu entgehen. Seyid Riza wurde durch Verrat gefaßt und im November 1937 hingerichtet. Uneinigkeit der Stammesführer und die Erschöpfung der Guerilla ließen den Widerstand im Herbst 1938 zusammenbrechen. Weit über 50000 Dersimer waren getötet worden, Zehntausende Überlebende wurden in die Westtürkei zur »Assimilation« deportiert. In das kollektive historische Gedächtnis der Bewohner gingen die Jahre 1937/38 als Tertelê (Vernichtung) ein, deren Anerkennung als Genozid zuletzt im November 2010 auf einer von Dersimer Flüchtlingen organisierten Konferenz im Berliner Abgeordnetenhaus gefordert wurde.
Einer zweiten Vernichtungswelle sah sich Dersim in den 90er Jahren ausgesetzt, als das Militär 210 Dörfer im Krieg gegen die PKK-Guerilla räumen ließ und die Provinz unter ein Embargo stellte. Bis heute setzt die Armee auf »verbrannte Erde«. Im Sommer zündeten Soldaten große Waldflächen an und vergifteten Äcker mit weißem Phosphor. Weite Gebiete wurden zu militärischen Sicherheitszonen erklärt, so daß das Vieh nicht auf die Hochweiden getrieben werden konnte und die Viehzüchter ihre Existenzgrundlage verloren. Aufgrund von Flucht, Vertreibung und Auswanderung hat sich die Einwohnerzahl Dersims innerhalb der vergangenen 30 Jahre auf etwa 90000 Menschen nahezu halbiert.
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