Kontraangriff gegen Bevölkerung in Colemerg (Hakkari)

[ Nach unten  |  Zum letzten Beitrag  |  Thema abonnieren  |  Neueste Beiträge zuerst ]


Mezrecux
Gelöschter Benutzer

Kontraangriff gegen Bevölkerung in Colemerg (Hakkari)

von Mezrecux am 17.09.2010 21:11

In den Morgenstunden des 16.09.10 detonierten zwei Panzerminen bei einem zivilen Bus in der Provinz Colemerg Hakkari in der Nähe des kurdischen Dorfs Peyani und töteten zehn seiner Insass_innen 4 weitere, darunter ein Baby wurden verletzt. Alle Insass_innen standen der linken prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP nahe. Während der Generalstab, Ministerpräsident und die ihnen jeweils nahe stehenden türkischen Medien nicht müde werden zu behaupten dies sei ein Anschlag der kurdischen Guerilla gewesen verdichten sich die Hinweise auf ein Massaker von Kontraguerillas, also staatlichen bzw. parastaatlichen Todesschwadronen. Die Bevölkerung dieser Region, die mit einem 99% Boykott des Referendums der Regierungspartei AKP seine Verbundenheit zur kurdischen Bewegung zeigte, hat schon viele Repressionen dieser Art von Kräften des Staates erlebt. Er wird deshalb auch als weiterer Einschüchterungsversuch der Bevölkerung bewertet. Der Angriff ereignete sich zu einem entscheidenden Zeitpunkt des einseitigen Waffenstillstandes der kurdischen Guerilla HPG und scheint eine gezielte Provokation zu sein, ähnlich anderen Angriffen dieser Art bei verschiedenen vorhergehenden Waffenstillständen. Der Angriff diente der türkischen Regierung weiterhin als Vorwand geplante Gespräche mit der BDP abzusagen.

Rucksack der „Berg- und Kommando Brigade Hakkari“ des türkischen Militärs am Tatort gefunden
Die Bevölkerung, die zum Tatort geeilt war, fand in der Nähe einen zurückgelassenen türkischen Armeerucksack mit Munition, einer Kamera und zwei Panzerminen des türkischen Militärs. Der Rucksack war beschriftet mit „Berg und Kommandobrigade Hakkari“: Über Funk war daraufhin die Anweisung an die Soldaten zu hören „Wir mussten Material zurücklassen, holt es sofort!“ Die Soldaten versuchten durch Schusswaffengebrauch die Bevölkerung dazu zu zwingen die Tasche herauszugeben. Aufgrund des Verdachts, dass Militär würde die Tasche einfach verschwinden lassen, wurde die Tasche jedoch erst offiziell der Staatsanwaltschaft übergeben. Es kam in diesem Rahmen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und der Dorfbevölkerung. Weiterhin wurden am Tatort Dokumente der Landstreitkräfte gefunden, das sich mit der Platzierung von Sprengladungen beschäftigt, des weiteren Artilleriegranaten und Säcke aus türkischer Militärproduktion.
Dass die Täter den Tatort fluchtartig verlassen mussten belegen neben den vielfältigen zurückgelassenen Spuren auch Augenzeug_innen. Sie berichteten, dass eine Gruppe, direkt nach der Explosion wegen eines Fahrzeugs, das sich dem Tatort näherte, floh.

Familien der Getöteten wurden von Soldaten und JITEM bedroht
In dem Dorf Peyanis stehen alle Einwohner_innen der BDP nahe. Von 970 Wähler_innen, nahmen nur fünf nicht am Boykott des Referendums der türkischen Regierung teil. Die Familien in dem Dorf werden schon lange vom Militär und vom Geheimdienst JITEM, der für mehr als 17.000 „Verschwundene“ in den letzten 20 Jahren verantwortlich gemacht wird, bedroht. Viele Dorfbewohner_innen meinen, dass der Rucksack mit der Aufschrift „Berg- und Kommando Brigade Hakkari“ bewusst von den Tätern als weitere Drohung abgelegt worden ist. Weiterhin wurden am Tatort zwei Bajonette zurückgelassen. Für die Bevölkerung vor Ort ist dies ein bekanntes Zeichen, was auf die Verwicklung der parastaatlichen Todesschwadron Dolchteam (Hançer Timi) hinweist, die eng mit dem JITEM, Militär, Dorfschützern und Polizei verbunden ist und für etliche (Folter-)Morde an politischen Aktivist_innen in den letzten Jahren und Monaten verantwortlich zeichnet.

Keine Verfolgung der Täter
In der Region sind zehntausende von Soldaten stationiert. Wie sonst bei jedem Angriff oder Aktion üblich gewesen wäre, wurden keine Militäroperation begonnen, keine Kobrahelikopter eingesetzt, das Militär führte keine Bewegungen durch.
Im Gegenteil, direkt nach der Explosion war ein Befehl des Militärs an die Dorfschützer (Paramilitärs) über Funk zu hören: „Mischt Euch nicht in die Angelegenheiten einer 9-köpfigen Gruppe hier in den Bergen ein.“ Dieser Befehl wird durch einen der Dorfschützer bezeugt.

Das ist Staatsterrorismus
Der Vater des verstorbenen Fahrers Cahit Erlo erklärte: „An dem Tatort wurden große Mengen Militärmaterial gefunden. Das zeigt, wer hinter diesem Verbrechen steht. Der Verwandte der verstorbenen Şirin Kurt, Necmi Kurt erklärte: „Es ist klar woher das kommt. Wir waren am Tatort. Das ist Staatsterrorismus. Alle Ausrüstung war dort vorhanden. Das Militär hat sich sehr bemüht diese Ausrüstung einzusammeln. Aber wir haben sie ihnen nicht gegeben, wir übergaben sie der Staatsanwaltschaft. Die Täter hatten nicht erwartet, dass sich von hinten ein zweites Fahrzeug näherte. Deswegen mussten sie ohne ihre Taschen vom Tatort fliehen. Es ist deutlich, dass ist ein Werk des Staates, es ist Staatsterrorismus.

Kurdische Guerilla verurteil Angriff
Die kurdische Guerilla HPG und die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistan KCK erklärtem ebenfalls, dass es sich bei dieser Aktion um keine Guerillaaktion sondern einen Angriff von Kontras gehandelt habe. Sie erklärten: „Unsere Bewegung hat vom 13. August bis 20. September einen Waffenstillstand erklärt, der immer noch andauert. Wenn keine ernsthafte neue Situation entsteht, dann wird unsere Entscheidung bis zum 20.09. gültig sein. In Colemerg (Hakkari) hat unsere Guerilla zuvor von ihrem Recht auf Vergeltung Gebrauch gemacht und kontrolliert Militäreinrichtungen angegriffen, da 9 Mitglieder unserer Verteidigungskräfte gefallen sind. Außer diesen Vergeltungsaktionen wird von Seiten der HPG bis zum 20.09. keine Aktion durchgeführt.“
Weiterhin betonte die KCK dass sie mit der Explosion in Colemerg (Hakkari), die das Opfer von 10 Zivilist_innen forderte, nichts zu tun habe. Die Aktion trage die Handschrift der staatlichen Kontraguerilla. Insbesondere in der Region Hakkari war der Boykott des Referendums besonders hoch gewesen, die Aktion solle ebenfalls die Bevölkerung dafür bestrafen, dass sie so aktiv am Boykott teilgenommen hat.
„Der Angriff, der in Peyanis auf ein ziviles Auto durchgeführt wurde, dieser Kontraangriff, ist ein Angriff auf den demokratischen Freiheitswillen des kurdischen Volkes. Dieser Angriff ist ein Versuch der vom Staat abhängigen Kontrakräfte die freiheitliche Willen und die Haltung der Bevölkerung zu bestrafen und zu begrenzen.“
Weiterhin erklärte die HPG, dass Kontrakräfte, die in der Region operieren, versuchen Angriffe dieser Art durchzuführen und sie der Guerilla aufzubürden. In diesem Rahmen appellierte die kurdische Guerilla insbesondere auch an das Gewissen der türkischen und internationalen Medien.

Video zum Tatort:
Video der türkisch nationalistischen Milliyet zu den Auseinandersetzungen am Tatort:
http://video.milliyet.com.tr/Mayinlarin-patladigi-koyde-ilginc-gelisme_1_43495.htm?auto=1" target="_blank">hier klicken


Quellen: ANF, DIHA, Yuksekovahaber, Hakkarinews, 17.09.2010, ISKU



ISKU | Informationsstelle Kurdistan

Antworten

« zurück zum Forum