Schreiben hinter Gittern: Öcalans Tagebücher

[ Nach unten  |  Zum letzten Beitrag  |  Thema abonnieren  |  Neueste Beiträge zuerst ]


Kurdewari
Gelöschter Benutzer

Schreiben hinter Gittern: Öcalans Tagebücher

von Kurdewari am 27.01.2011 09:59

Schreiben hinter Gittern: Öcalans Tagebücher




Ein neues Buch gibt Einblick in das Denken eines der letzten linken Arbeiterführer, des umstrittenen PKK-Chefs Abdullah Öcalan

Es ist eine Herausforderung, Schriften eines in lebenslänglicher Isolationshaft befindlichen Gefangenen herauszugeben. Die internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“ hat es gewagt. Sie hat zusammengetragen, was der 1999 vom türkischen Geheimdienst in Kenia festgenommene und wegen Bildung einer terroristischen Organisation verurteilte Kurdenführer in Haft geschrieben hat. Das Projekt entstand unter schwierigsten Bedingungen. Öcalan verfügt auf der Gefängnisinsel Imralı über keine wissenschaftlichen Bibliotheken, kann also nur aus dem Gedächtnis zitieren. Nachfragen der Verleger und Übersetzer an den Autor waren nicht möglich.
Herausgekommen ist ein 600 Seiten starkes Buch, das nicht nur für Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) interessant sein dürfte. Öcalan gehört zu den umstrittensten politischen Führungsfiguren der Gegenwart. Seine Anhänger verehren den von Marxismus, Nationalismus und Befreiungsbewegungen, aber auch vom Feminismus beeinflussten Arbeiterführer. Die türkische Regierung sieht in ihm einen Terroristen und Massenmörder. 1949 geboren, gründet der Politologe 1978 die PKK, mit dem Ziel der Errichtung eines unabhängigen kurdischen Staates. Nach dem Militärputsch von 1980 steuerte Öcalan die PKK von Syrien aus. Bis zu seiner Verhaftung suchte er in europäischen Ländern um Asyl an – ohne Erfolg. Öcalan wurde in der Türkei zum Tode verurteilt, nach internationalen Protesten wurde das Urteil in lebenslängliche Isolationshaft umgewandelt.

Vom Revolutionär zum Pragmatiker
Das nun in deutscher Sprache vorliegende Buch gibt Einblick in das gegenwärtige Denken Öcalans. Er zeigt sich dabei als Pragmatiker, der auch fähig zu sein scheint, aus Niederlagen zu lernen. Der Gegensatz zu früheren Texten ist bereits in der Sprache augenfällig. Öcalans Gefängnisprosa ist weit entfernt von seiner marxistisch-
leninistischen Kampfrhetorik der 80er-Jahre und reflektiert durchaus auch selbstkritisch die eigenen Kämpfe, Erfolge und Rückschläge.
Eine der bemerkenswertesten Veränderungen in Öcalans Denken wird im Begriff des „Volkes“ sichtbar. In der PKK waren in der Vergangenheit immer wieder stark nationalistische Töne zu hören, die auch – zumindest fallweise – einen völkischen Nationsbegriff inkludierten. Für den gegenwärtigen Öcalan besitzt der Begriff zwar immer noch eine sehr zentrale Bedeutung, allerdings stellt er nun unmissverständlich klar, dass er diesen ähnlich gebraucht, wie große Teile der lateinamerikanischen Linken den Begriff „pueblo“ verwenden: „Wir können die Gruppen, die sich um den Staat herum anordnen und von ihm materiell und ideell, nämlich durch Ökonomie und Wissen profitieren, als offizielle Gesellschaft, Oligarchie oder ganz einfach als ‚staatstragend‘ bezeichnen. Die Gruppen, die als dialektischer Gegenpol im Gegensatz zu ihnen stehen, die unterdrückten Klassen, ethnischen, kulturellen, religiösen und geschlechtsspezifischen Gruppen können wir ‚Volk‘ nennen.“
Dementsprechend verzichtet Öcalan auch weitgehend auf Verschwörungstheorien oder die alte antiimperialistische Rhetorik und versucht, die Politik der USA im Nahen Osten systemisch zu erklären. Die USA würden sich darum bemühen, die Krise des Kapitalismus zu managen, und wären sich ihrer diesbezüglichen Verantwortung bewusst. Die Einschätzung, wonach sie vor hätten, ihr Imperium auszudehnen, betrachtet er als „unangemessen“. Hingegen würden sich deutliche Vorzeichen für den Verfall der Supermacht zeigen: „Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1990 erfolgt die Ausbreitung nahezu von selbst. Das liegt jedoch nicht daran, dass sie stärker geworden wären, sondern daran, dass das System ein Vakuum nicht toleriert. Man muss betonen, dass das Imperium keine Erfindung der USA ist, sondern so alt wie das System selbst und nur seine jüngste Ausprägung im Kapitalismus in den USA findet.“

Ohne Kritik an seiner Rolle
Demokratie und eine ökologisch-soziale Ökonomie stehen heute im Mittelpunkt von Öcalans Denken. Aus der Russischen Oktoberrevolution des Jahres 1917 zieht er nun die Lehre, dass es nur dauerhafte antikapitalistische Lösungen geben könne, „indem die demokratische Haltung der Völker in umfassende demokratische Systeme transformiert wird“. Die Linke – auch die PKK – müsse sich vom Etatismus befreien. Hier knüpft er an die seit 2005 durch die PKK propagierte Idee eines „demokratischen Konföderalismus“ von unten an. Die Kritik der bisherigen Staats- und Revolutionskonzepte der PKK sind ein Beispiel für Öcalans Selbstkritik, die allerdings dadurch geschmälert wird, dass er die eigene Person und seine Rolle als autoritäre und idealisierte Führergestalt nicht prüfend unter die Lupe nimmt.
Neben Innovationen und Weiterentwicklungen finden sich auch Konstanten im Denken Öcalans. So bleibt die wichtige Rolle, die er der Patriarchatskritik einräumt, auch in diesen Schriften sichtbar.
Die Weiterentwicklung der Ideologie und die Abkehr vom autoritären marxistisch-leninistischen Denken haben bislang allerdings nicht dazu geführt, die PKK als möglichen Partner für eine Friedenslösung zu akzeptieren.
Öcalans Einschätzung der Reformen der AKP-Regierung oder der fortgesetzten Kriegshandlungen im Südosten ist dem Buch nicht zu entnehmen. Das liegt da­ran, dass es bereits 2004 als Eingabe im Verfahren Öcalans vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aus der Gefangenschaft heraus an die Öffentlichkeit gebracht wurde und damit nicht auf die späteren Entwicklungen in der Türkei und innerhalb der PKK eingehen kann.

Link

Antworten

« zurück zum Forum