Nehmen Sie ja nie die Straße nach Mossul

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Nehmen Sie ja nie die Straße nach Mossul

von Azadiyakurdistan am 17.07.2010 01:43



Das kurdische Arbil ist eine der modernsten und sichersten Städte des Iraks. Schiiten, Sunniten, Kurden und aramäische Christen haben dort ihre Heimat gefunden - vorläufig.


Noch ragt die Zitadelle unübersehbar aus dem Stadtbild von Arbil hervor. Aus welcher Richtung der Besucher auch kommt, irgendwann steht er staunend vor dem Anstieg zu diesem ältesten Teil der nordirakischen Millionenstadt. Hoch über dem Basarviertel umschließt eine ockerfarbene Kette aus Hunderten befestigter Häuser wie eine Umfassungsmauer das Plateau. Qala nennen die Menschen die Zitadelle; früher hielt man sie für eine natürliche Erhebung. Doch unter dem Labyrinth aus Gassen, Häusern und Höfen liege bis zu sechstausend Jahre alter Schutt früherer Besiedlungen, heißt es übereinstimmend in den Reiseführern über den Irak, die seit bald zwanzig Jahren nicht mehr neu aufgelegt worden sind. Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen und sehr viel später Araber und Kurden haben hier Spuren hinterlassen. Heute jedoch ist die einst lebendige Qala eine Geisterstadt: Verlassene Häuser, Läden, an denen zum Teil noch die Preistafeln hängen - die kurdische Regionalregierung hat vor zwei Jahren die Umsiedlung der dort lebenden Menschen verfügt. Achthundertfünfzig Familien mussten in ein Neubaugebiet am Stadtrand umziehen. "Das Viertel war heruntergekommen, die Abwässer hätten womöglich die alten Schichten angegriffen. Unsere Regierung will, dass die Qala auf die Unesco-Weltkulturerbeliste kommt", sagt Anwar, ein kurdischer Bauingenieur, der an den Umgestaltungsplänen für die Zitadelle mitarbeitet. Sie soll ein Museum werden.

Arbil ist heute eine moderne Stadt, vielleicht sogar die modernste im Irak. Vernachlässigt unter dem Regime von Saddam Hussein, zählte sie zufolge der letzten Volkszählung im Jahr 1987 vierhundertachtzigtausend Einwohner. Inzwischen werden sie auf 1,3 Millionen geschätzt. Arbil ist Sitz der Kurdischen Regionalregierung, die weitreichende politische Verantwortung für den kurdischen Norden des Iraks übernommen hat. An ihrer Spitze steht seit vergangenem Jahr eine Koalition aus den beiden großen kurdischen Parteien, die sich noch bis vor wenigen Jahren bekämpften. Wichtiger noch als ihre Funktion als Regierungssitz ist, dass die Stadt in diesem Land, das immer noch von Krieg, Bürgerkrieg und Selbstmordattentaten erschüttert wird, den Menschen Sicherheit gibt. Hier können sich Iraker schiitischer oder sunnitischer Religion, Kurden, aramäische Christen und Ausländer frei bewegen. Die Vereinten Nationen haben in Arbil deshalb ein Büro, viele westliche Länder - auch Deutschland - sind in Arbil mit diplomatischen Vertretungen präsent. Geschäftsleute aus der arabischen Welt, aus Europa und Ostasien strömen deshalb in die Stadt. Für sie ist sie die Tür zum Irak, in der man einen Fuß haben möchte, wenn irgendwann Frieden in diesem wirtschaftlich wichtigen Land des Nahen Ostens einkehrt. Und auch Geld aus den irakischen Öleinnahmen fließt in den Regierungshaushalt. Auf den neuen sechsspurigen Stadtautobahnen drängen sich die Autos, kaum eines ist älter als fünf Jahre.

Von jedem Prominenten ein Bild


Durch den Dunst der Abgase bricht eine blasse Abendsonne. Vom Westtor der Qala aus hat man einen weiten Blick auf das neue Arbil, auf seine Ringstraßen, neuen Einkaufszentren, Moscheen, Hotels, Baukräne und die schnell hochgezogene Neubauviertel zwischen den breiten Ausfallstraßen. Noch verirren sich keine Touristen auf die Qala. Ein paar türkische Gastarbeiter, auf einer der vielen Baustellen beschäftigt, verbringen hier ihre Freizeit. Sie rauchen, plaudern und machen auf ihren Handys Fotos voneinander.

Der Treppenabgang von der Qala führt in eine mehrstöckige Markthalle. Die Gewölbekonstruktion wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet, seitdem hat man das Dach mehrfach repariert, stützende Stahlträger eingezogen und es mit einer Wellblechauflage versehen. An den weiß getünchten Wänden zieht sich ein Gewirr kreuz und quer verlegter Elektroleitungen entlang. Stände für orientalische Gewürze, für Stoffe, Schuhe, Gold und Silberschmuck finden sich auf den Etagen. Mittendrin betreibt Khalil, der sein Alter nicht verraten will, eine Teestube. Drei Sorten Tee schenkt er aus: starken, mittelstarken und milden. Khalil bedient die meisten seiner Gäste persönlich, und das schon seit einundsechzig Jahren. Bestellungen aufnehmen, Tee einschenken, Teegläser verteilen, kassieren, mit den Gästen plaudern. Khalil gönnt sich keine Ruhe, so als wäre er fünfzig Jahre jünger. Auf Bänken sitzen seine Gäste unter den Gewölben. Die Nischen sind mit vergilbten Schwarzweißfotos dekoriert: Bilder irakischer Künstler und Politiker. Alle sind sie vertreten, die irgendwann in den vergangenen fünfzig Jahren prominent gewesen sind, Sänger, Musiker, Filmstars und Sportler. König Faisal und Saddam Hussein, in einer Ecke hängt ein Bild des PKK-Führers Abdullah Öcalan. Er werde eines Tages als freier Mann das Gefängnis verlassen, wie damals Nelson Mandela, sagt einer der Gäste. Ein anderer schüttelt missbilligend den Kopf: "Nein, das ist kein Mandela, der hat den Tod von Kindern und ganzen Familien auf dem Gewissen." Marktbesucher und Händler, Menschen unterschiedlichster Religion und Herkunft trinken bei Khalil Tee. Viele von ihnen hat der Krieg nach Arbil geschwemmt. In einer Ecke sitzt Hikmat, der früher als Ingenieur in der Erdölindustrie Kirkuks tätig war. Doch dann wurde er durch einen Streifschuss verletzt. Seitdem ist er auf dem linken Auge blind. In seiner Heimat Kirkuk sind die Tage von Ausgangssperren und Selbstmordattentaten bestimmt. In Arbil wartet Hikmat nun auf bessere Zeiten. Khalil bedient derweil unermüdlich seine Gäste. Was hält er denn von den Plänen der Stadt, den Basar abreißen zu lassen? Khalil hört davon zum ersten Mal. Ungläubig schüttelt er den Kopf: "Das geht doch nicht. Unter dem Markt sind die Gräber von Heiligen." Er werde einfach weiter Tee ausschenken.

Hammelfleisch, Gemüse, Joghurt

Der Wirtschaftsboom im kurdischen Teil des Iraks hat auch andere Provinzstädte erreicht. Die nahe der iranischen Grenze gelegene Universitätsstadt Sulaimanije etwa, die als das kulturelle Zentrum Kurdistans gilt, oder die Halbmillionenstadt Dohuk. Auf den Hauptstraßen über Land zu fahren, ist relativ sicher. Ab und zu kontrollieren kurdische Polizei- und Militärposten die Autos und Papiere der Reisenden. Wir sollen aufpassen, dass wir nicht versehentlich auf die Autobahn nach Kirkuk, Mossul oder gar in Richtung Bagdad geraten, warnt man uns wieder und wieder. Öffentliche Gebäude sind an der kurdischen Fahne erkennbar, von der Zentralregierung in Bagdad nimmt kaum jemand Notiz. "Manchmal", sagt unser Fahrer Ismail, "ist es mir peinlich, dass ich nur gebrochen Arabisch spreche. Wir sind ein Land, aber seit 1991 spricht man bei uns im Norden in der Schule nur Kurdisch."

Wir wollen wissen, wie es auf dem Land, in den Gebirgsdörfern, an der Grenze zu Iran und der Türkei aussieht und schlagen den Weg in Richtung Qumri ein. Das Dorf liegt am Nordhang des Gebirgskamms, der die türkisch-irakische Grenze markiert. Malerisch schmiegen sich die Häuser in ein Seitental, überall stehen Obstbäume. Ein filigranes Muster von Bewässerungskanälen teilt die Gärten. Vieh steht auf Weiden. Omar, der Mukhtar, der Dorfvorsteher, lädt uns in sein Haus ein. Eine Matte wird im Wohnzimmer ausgelegt, die Familie des Gastgebers stellt Schüsseln mit Hammelfleisch, mit Gemüse und Joghurt vor uns hin. Dazu wird Fladenbrot serviert. Omar ist ein jovialer Mann, auch bei ernsten Themen lächelt er verschmitzt. Man glaubt ihm, dass die Menschen ihm vertrauen. Seit 1991 ist er Mukhtar, doch es sei immer schwerer, die Dorfgemeinschaft zusammenzuhalten. Denn wer kann, zieht aus dem Dorf weg: Sechsundachtzig Familien zählte es einmal, die Hälfte von ihnen ist in die Stadt abgewandert - viele für immer. Ohne die Nahrungsmittelhilfen der Regierung könnten die meisten im Dorf nicht überleben.
Das Trauma der Vertreibung

Unter den Besuchern im Haus von Omar ist an diesem Abend auch Hussein, der Mukhtar des Nachbardorfes Baz. Dort geht es wirtschaftlich etwas besser, weil das Bewässerungssystem auch in trockenen Jahren mit Wasser versorgt ist. Die vergangene Apfelernte war gut, die Bauern haben reichlich auf den Märkten und in der Stadt verkauft. In Baz leben muslimische Kurden und fast genau so viele aramäische Christen. "Zu großen christlichen und muslimischen Festen laden wir uns gegenseitig ein. Und wir haben eine gemeinsame Schafherde", sagt Hussein. Doch auch Baz leidet unter Abwanderung.

Warum so viele in die Städte ziehen, hat noch einen anderen Grund: die Vertreibung Hunderttausender Kurden unter Saddam Hussein in den achtziger Jahren. In Qumri sprengte die Armee alle Häuser, die Brunnen wurden zugeschüttet. Zwei Jahre verbrachten die Dorfbewohner in einem Lager in der Türkei, abgeschnitten von Kontakten zur Außenwelt. Nur manchmal sei es gelungen, einen Brief am Wachpersonal vorbei in die Heimat zu schmuggeln, erinnert sich ein alter Mann. Kurdische Lastwagenfahrer, die nach Bagdad fuhren, nahmen die Nachrichten an die Verwandten mit. Dann, im Jahr 1991, bekamen zunächst die Frauen die Erlaubnis, das Lager tagsüber zu verlasen. Schließlich durften auch die Männer in ihre Heimat zurückkehren. Die Vereinten Nationen halfen beim Wiederaufbau und versorgten die Menschen mit Nahrungsmitteln, später wurden sie auch von der Kurdischen Regionalregierung unterstützt. Aber das Trauma der Vertreibung ist noch längst nicht überwunden. "Wir erzählen auch unseren Kindern davon, denn ganz sicher fühlen wir uns nie, nicht einmal in unserer eigenen Heimat", sagt der Mukhtar von Qumri. "Denn schließlich sind wir hier im Nahen Osten."

(faz.net)

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