Der große Bruder ist ganz privat

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GulaKurdistane
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Der große Bruder ist ganz privat

von GulaKurdistane am 04.12.2010 02:40

Mit der Entwicklung immer besserer Computer, Kameras, Mikrofone, Speichermedien und internationaler Vernetzung und deren Nutzung durch staatliche Institutionen, die Ordnung und - Sicherheit garantieren sollen, schien besorgten Demokraten und Liberalen die wachsende staatliche Kontrolle eine der größten Gefahren für Freiheit, Privatleben und Individualrechte.
George Orwells „großer Bruder", der alles kontrolliert, jeden unter Beobachtung hat und alles über jeden weiß und dieses Wissen benutzt, um seine Macht über die Menschen auszubauen und zu festigen, wurde damit immer konkreter und immer bedrohlicher. Die Sorge: Der Staat wird zum Moloch, vor dem keine private Regung mehr sicher ist, der unsere intimsten Geheimnisse kennt - und diese Kenntnis notfalls gegen jeden von uns einsetzt.

Diese Gefahr besteht durchaus weiter. Doch sie wächst ins Unermessliche mit dem Auftritt privater Unternehmen, die uns mit perfider Offenheit dazu verführen, unser Innerstes bloßzustellen - und dabei denen, die uns bloßstellen auch noch zu applaudieren. Soziale Netzwerke machen Persönliches elektronisch sichtbar. Und all das bleibt, wiewohl es nur elektronisch gespeichert ist, in Stein gemeißelt: Auf immer vorhanden, auf immer einsehbar, auch wenn uns vieles nach einiger Zeit furchtbar peinlich ist und wir wünschen, es wäre nie geschehen, wir hätten es nie gesagt.

Internet-Suchdienste stellen unsere Häuser und Wohnungen und Gärten auf den internationalen Marktplatz, wo sich jeder bedienen kann, vom wohlmeinenden Onkel in Übersee bis hin zum finsteren Dämmerungseinbrecher. Software zur Gesichtserkennung wird dazu führen, dass ich über jeden Passanten per Handy-Foto und Verknüpfungen im Netz alles herausfinden kann, was je über ihn gespeichert wurde. Dann sind wir nicht mehr nur in aller Öffentlichkeit nackt, wir liefern das Röntgenbild noch gleich dazu.

Und schließlich beschert uns WikiLeaks Einblicke in Informationen, die auf normalen Wegen nicht möglich wären. Julian Assange nimmt für sich in Anspruch, er bringe totale Transparenz und verbessere so langfristig die Welt. Wenn jede staatliche Institution jederzeit damit rechnen müsse, dass all ihr Handeln und alle Beweggründe dereinst offengelegt wird, werde niemand mehr lügen und betrügen.

WikiLeaks reklamiert für sich, investigativ zu sein wie eben Journalisten sein müssen, ja weit über das hinaus. Doch der investigative Journalist erkennt einen Missstand, recherchiert gründlich, nutzt womöglich geheime Quellen, hört aber auch die andere Seite und beachtet Hintergründe und Beweggründe der handelnden Personen.

WikiLeaks tut das nicht. WikiLeaks wirft dem Publikum eine ungeordnete Masse an Information vor die Füße, nach dem Motto: Friss, Vogel und schau, dass du nicht daran erstickst. Damit erzeugt WikiLeaks eine Pseudo-Transparenz, die hinter einem dichten Vorhang ungeordneten Wissens mehr verbirgt als sie offenlegt.

Assange uns seine Aufdecker nehmen vertrauliche Information, wo immer sie sie gefahrlos bekommen können. Da autokratische oder tyrannische Regime sich effizienter abschotten als Demokratien, gehen die Datensucher von WikiLeaks den einfachsten Weg: Sie suchen dort, wo der Zugang zu Informationen relativ einfach zu erlangen ist. Die Folge: Demokratien werden durch eine Welle an Enthüllungen bloßgestellt, den Diktaturen bleibt das erspart. WikiLeaks straft also die offenen Systeme für jede Verfehlung, die wirklich Bösen aber, die sich abschotten, bleiben unbehelligt.

Beispiel gefällig? Wir wissen seit den jüngsten Enthüllungen, was arabische Herrscher von der Möglichkeit halten, dass der Iran zur Atommacht werden könnte. Wir wissen, dass diese Politiker die USA drängen, „der Schlange den Kopf abzuschlagen". Aber wir erfahren selbstverständlich nichts über die wahren Pläne des tyrannischen Regimes in Teheran.
Oder: Die ganze Welt weiß jetzt, dass US-Diplomaten angehalten werden, ihre Kollegen aus anderen Ländern zu bespitzeln. Aber kein Mensch redet darüber, dass manche Regierungen Mörder unter dem Deckmantel von Diplomaten ausschicken, um Oppositionelle umzubringen, die ins Ausland geflüchtet sind - man denke nur an iranische Kurden und Tschetschenen in Wien.

Allein die Ankündigung, WikiLeaks werde Unzukömmlichkeiten aus amerikanischen Banken veröffentlichen, hat den Börsenkurs einer Großbank abstürzen lassen. Damit beweist WikiLeaks, dass es Macht hat und dass die Organisation gewillt ist, diese Macht auszuspielen. Dabei leiden Unschuldige: Aktionäre der Bank und potenziell auch Sparer.
Julian Assange und seine Organisation sind auf dem besten Weg, selbst eine jener mächtigen Institutionen zu werden, die dringend scharfer Kontrolle unterworfen werden müssen, damit sie nicht zu mächtig werden.



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