Erdbebenopfer in der Türkei: Versprechen und Versagen
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firat47
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Erdbebenopfer in der Türkei: Versprechen und Versagen
von firat47 am 10.12.2011 14:01Die Erdbebenopfer im Osten der Türkei warten in der Kälte auf die von der Regierung versprochene Hilfe. Zehntausende Menschen harren bei Minusgraden in Notunterkünften aus.
Jeder Lebende wird irgendwann den Tod schmecken", prangt in großen Lettern an der Mauer des Selim-Bey-Friedhofs in Van. 47 notdürftig aus Plastikplanen errichtete Zelte sind über das Friedhofsgelände unweit des Stadtzentrums verstreut. Kinder in Kleidern, die viel zu dünn sind für die winterlichen Temperaturen, spielen inmitten der Grabsteine. Seitdem am 9. November ein zweites Erdbeben den Osten der Türkei erschütterte, lebt Ali Hikmet mit seiner Familie in dieser Zeltsiedlung. Hikmet und seine Nachbarn haben ihr Lager auf dem Friedhof errichtet, weil er in der Nähe ihrer zerstörten Häuser liegt und weil hier genug Platz ist; vor allem aber, weil sie sich hier sicher fühlen. „Seit den Erdbeben sind überall in Van Plünderer unterwegs", sagt Hikmet. „Vor Friedhöfen aber haben selbst Kriminelle zu viel Respekt, sie lassen uns in Ruhe."Hoffnung auf staatliche Hilfe hätten alle hier inzwischen aufgegeben, sagt ein Nachbar. „Wir sind Kurden, wir haben die kurdische Partei BDP gewählt, die Regierung interessiert sich nicht für uns." Der Vizegouverneur sei zwar vor ein paar Tagen dagewesen, habe ein paar Hilfspakete mit Lebensmitteln dagelassen, „aber was wir brauchen, sind vernünftige Zelte, in denen unsere Kinder den Winter überstehen können, medizinische Versorgung und die Möglichkeit, uns zu waschen." Bisher leben sie in den selbstgebauten Zelten, beheizt durch einen kleinen Holzofen, dessen Rohre aus einem in die Nylonplane geschnittenen Loch ragen.
Erdogan ist zu stolz, dringend benötigte Unterstützung anzunehmen
Wie gefährlich das werden kann, musste die Familie Tolukan im wenige Kilometer entfernten Dorf Karpuzalan erfahren. Das kurdische Ehepaar lebte mit seinen zehn Kindern in einem dünnen Sommerzelt. Nun sitzt die siebenjährige Elif mit bandagierten Händen auf dem Schoß ihres Vaters Semsettin. Wenn sie lacht, verzerrt sich ihr Gesicht vor Schmerzen. Es ist von frisch verheilten Brandwunden überzogen. Sie hat das Feuer überlebt, das in dem Zelt ausbrach, in dem die Familie nach dem zweiten Erdbeben übernachtete. Drei ihrer Geschwister wurden dabei getötet. Ein winterfestes Zelt sei nicht aufzutreiben gewesen, sagt Semsettin. Nur das dünne Sommerzelt habe ihm die Bezirksverwaltung nach tagelangem Anstehen gegeben. Nachts rutschten die Temperaturen auf zweistellige Minusgrade. Und so habe er darin einen Kohleofen aufgestellt. „Wir wussten, dass es gefährlich werden könnte, aber wir hatten keine Wahl", sagt Semsettin. „Unsere Kinder wären doch sonst erfroren."
Nach dem Feuer sei Gouverneur Münir Karaloglu vorbeigekommen. Er habe Jobs für die beiden älteren Söhne der Familie als Hilfe angeboten. Doch als Semsettin beim Gouverneur vorsprechen wollte, hatte dieser keine Zeit. Inzwischen übernachtet die Familie in einem Wohncontainer, gespendet von einer privaten Hilfsorganisation.
Das Gefühl, von der Regierung im Stich gelassen worden zu sein, haben in diesen Tagen die meisten Erdbebenopfer in Van. Dass Ministerpräsident Erdogan kurz nach dem ersten Beben ausländische Hilfe abgelehnt habe, sei leichtfertig und verantwortungslos gewesen, sagt Suat Özçagdas. Der Psychologe leitet Hilfsprogramme in Katastrophengebieten und hat sich nach den Beben in der Osttürkei dort über die Lage informiert. Mitarbeiter der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD sind noch deutlicher in ihrer Kritik: Ministerpräsident Erdogan sei so darauf erpicht, sich auf der Weltbühne als großer Staatsmann zu präsentieren, dass er zu stolz gewesen sei, die dringend benötigte Unterstützung sofort anzunehmen. Er habe auf Kosten der Bevölkerung von Van getestet, wie gut seine Regierung die Katastrophe ohne fremde Hilfe bewältigen könne.
„Es heißt, sie horten Hilfsgüter, statt sie zu verteilen"
Zehntausende Menschen harren nun bei Minusgraden in Notunterkünften aus. Zwei Kinder erfroren bereits in ihren Zelten. Die meisten Krankenhäuser sind geräumt. Das einzige den Betrieb aufrechterhaltende ist heillos überfüllt, und die Hygienebedingungen in den Zeltsiedlungen sind so katastrophal, dass Ärzte eine Ausbreitung von Krankheiten befürchten. Die Menschen warten auf Gutachter, die stehengebliebene Häuser auf ihre Sicherheit hin untersuchen sollen. Jeden Tag stehen sie vergeblich bei den Behörden und Hilfsorganisationen Schlange in der Hoffnung auf Umsiedlung oder zumindest ein winterfestes Zelt. Viele berichten von Klientelpolitik: So sei die Versorgung in regierungsnahen Dörfern deutlich besser als in den Wahlkreisen der kurdischen Partei BDP. Außerdem horte Gouverneur Karaloglu Hilfslieferungen, um seine eigenen Angehörigen und Unterstützer zu versorgen.
Wo die aus dem In- und Ausland nach Van geflossenen Hilfsgelder und -güter gelandet seien, wisse keiner so genau, sagt Vans Vizebürgermeister Selim Bozyigit. „Die Bezirksverwaltung verwaltet die offiziellen Geldspenden und Hilfsgüter. Es heißt, sie horten Zelte, Decken und Lebensmittel, statt sie an die Bedürftigen zu verteilen. Wir haben keinen Zugang zu diesen Gütern, das Einzige, womit wir unseren Bürgern helfen können, sind private Spenden, die direkt bei uns ankommen", sagt er. Die von der kurdischen BDP regierte Stadt habe zwar einen Krisenstab eingerichtet, aber das Katastrophenmanagement liegt im Kompetenzbereich der Bezirksverwaltung. Dort arbeite der von der Regierungspartei AKP gestellte Gouverneur Karaloglu nicht mit der von der kurdischen BDP besetzten Stadtverwaltung zusammen, so Bozyigit. Das habe natürlich politische Gründe.
Sie müssen erst den Winter überstehen
Die Bezirksverwaltung selbst bestreitet solche Anschuldigungen. Man tue, was man könne, sagt ein Sprecher des Gouverneurs und verweist auf die von der Regierung zusammen mit der Hilfsorganisation Roter Halbmond betriebenen offiziellen Notlager. Doch in diesen Zeltlagern haben maximal 14.500 Menschen Platz. Van allein hat jedoch 37.000 Einwohner. Alle paar Tage erschüttern Nachbeben die Stadt. Niemand kehrt in sein Haus zurück. Selbst wenn offiziellen Angaben zufolge inzwischen fast 300.000 Menschen die Provinz Van verlassen haben, so sind immer noch mehrere zehntausend Menschen in der Region obdachlos.
Versäumnisse beim Katastrophenmanagement gibt inzwischen auch Ministerpräsident Erdogan zu. Am 10. November protestierten enttäuschte Bürger gegen die Regionalverwaltung in Van. Polizisten trieben sie mit Pfefferspray und Schlagstöcken auseinander. Ministerpräsident Erdogan ließ ausrichten, es habe sich nicht um „Erdbebenopfer, sondern um Unruhestifter" gehandelt. Abermals versprach er, dass alle Opfer der Katastrophe neue Unterkünfte bekommen sollen. Einziger Haken: Sie müssen erst den Winter überstehen, denn einzugsfertig sind die neuen Häuser erst im August.