Was passierte damals in Dersim?

[ Nach unten  |  Zum letzten Beitrag  |  Thema abonnieren  |  Neueste Beiträge zuerst ]


firat47
Gelöschter Benutzer

Was passierte damals in Dersim?

von firat47 am 04.12.2011 23:57

Zur Einordnung Dêrsims:

Dêrsim befindet sich im Norden Kurdistans. Die Sprache jener geschichtsträchtigen Region ist das Kurdische, wobei die Mehrheit den Dialekt Kirmanckî (Zazakî), ein beachtlicher Teil den Kurmancî-Dialekt spricht. Nahezu alle Dêrsimer sind Anhänger des kurdisch-alevitischen Glaubens, der sich durch gewisse Elemente vom westlich-türkischen Alevitentum unterscheidet. So sind in dieser synkretistischen Glaubensgemeinschaft unter anderem einige Elemente aus Naturreligionen vorzufinden.


Ein Querschnitt durch die Ereignisse des Dêrsim-Genozids:

  • 1915 retteten ein Großteil der Dêrsimer unter der Führung von Seyîd Riza 40.000 Armenier vor dem türkisch-osmanischen Genozid. Die Familien jener Überlebenden sind heute noch in Armenien vorzufinden.
  • 1937-1938 fand der Dêrsim-Aufstand unter der Führung Seyîd Rizas gegen den türkischen Staat statt. Dabei wurden schätzungsweise 70.000 Kurden systematisch vom türkischen Staat ermordet. Nach heutigen Erkenntnissen war jener Genozid bereits seit Mitte der 1920er Jahre in Planung, Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk war maßgeblich an der Umsetzung und Vorbereitung der Vernichtung Dêrsims beteiligt. Hierbei kam die Ideologie der Homogenisierung der in der heutigen Türkei lebenden Völker zum tragen. Nach der blutigen Niederschlagung wurde der Name Dêrsims in "Tunceli" geändert.
  • Zur Systematik: Zu Beginn wurden die Bewohner Dêrsims im Jahre 1936 dazu aufgefordert, ihre Waffen vom türkischen Staat einsammeln zu lassen. 1937 wurden militärische Garnisonen im Lande errichtet, Straßen wurden gebaut.
  • 1937 liquidierte man zuallererst die politische, soziale und religiöse Elite Dêrsims mittels Attentate. Ohne eine kompetente Führungskraft konnten die Dêrsimer den Widerstand gegen die türkische Armee nicht lange halten. Bis 1938 hielt der letzte Widerstand Dêrsims. Dabei wurden der maßgebliche Anführer des Widerstands Seyîd Riza und sein Sohn erhängt. Während Seyîd Riza entgegen seines letzten Wunsches die Erhängung seines Sohnen miterleben musste, waren seine letzten Worte: "Ich konnte mich gegenüber deinen Lügen und Betrügereien nicht behaupten, das wurde mir zur Pein. So werde ich dir gegenüber nicht auf die Knie fallen, sodass das dir zuleide komme."
  • Nach der Zerschlagung des bewaffneten Widerstands, verbrannte die türkische Armee zahlreiche Dörfer und massakrierte die zivile Bevölkerung. Zehntausende Zivilisten, darunter Frauen, Kinder und Greise wurden ermordet. Noch heute werden zuhauf Massengräber zutage gefördert. Die mündliche und schriftliche Literatur Dêrsims bezeugt zudem das tragische Ausmaß des Massakers an der Bevölkerung.
  • In der nächsten Phase wurden die Überlebenden zu Tausenden westwärts in türkische Städte deportiert. Viele kamen dabei aufgrund der inhumanen Transportbedingungen in Zugwagons vor Hunger, Durst, Erschöpfung oder Repressalien der türkischen Soldaten ums Leben. Hierbei wurden ebenfalls unzählige kleine Mädchen entführt und zwangsweise zur Adoption an türkische Offiziere gegeben. Der Dokumentarfilm "Die verschwundenen Mädchen Dêrsims" erzählt die Geschichte einiger dieser heute alten Frauen, die damals unter unwürdigen Bedingungen als Bedienstete in Offiziersfamilien leben mussten und denen die Ausübung der kurdischen Muttersprache untersagt war.
  • Erst 10 Jahre nach dem Massaker in Dêrsim gelang es einigen Dêrsimern, in ihre Heimat zurückzukehren.
  • Die Nachwirkungen des Dêrsim-Genozids zeigen sich in der Zwangstürkisierung der heimischen Kultur, des Glaubens und der kurdischen Sprache. Die nationalistische Ideologie der türkischen "Rehabilitierung" brachte die Identität Dêrsims an den Abgrund der Existenz. Sprecher der Muttersprache werden immer seltener, der ehemals distinktive Glauben ist nunmehr stark mit Theorien der islamisch-türkischen Synthese vermengt bzw. ist die Ausübung jeglichen kulturellen und religiösen Brauchs auf das Türkische beschränkt worden. Selbst ein dreiviertel Jahrhundert voller Aufstände, Unterdrückung und Bürgerkrieg sind kurdische Schulen in der Türkei verboten. In Dêrsim werden zur Zeit acht Staudämme geplant oder bereits gebaut, wobei zwei vor der Fertigstellung stehen, sodass neben der Assimilation der Identität auch die einzigartige Natur Nordmesopotamiens, die für die Einheimischen als heilig geltende Region auch physisch zerstört wird.
  • Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Genozid Dêrsims ein facettenreiches und allumfassendes Vorhaben zur Assimilation und Indoktrination der Dêrsimer Kurden darstellt und sich weit über die Ereignisse von 1937 und 1938 erstreckt.

dersiminfo.com

Antworten Zuletzt bearbeitet am 05.12.2011 00:02.

« zurück zum Forum