Die Kurden und Syrien: Im Zentrum einer geopolitischen Verschiebung
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Die Kurden und Syrien: Im Zentrum einer geopolitischen Verschiebung
von Azadiyakurdistan am 27.11.2012 19:17
Für die Kurden geht es in Syrien um mehr als nur um den Sturz des Despoten Asad. Die kurdischen Landesteile sind für sie ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einem eigenen Staat.
Inga Rogg, Erbil
Politisch haben die kurdischen Gegner des syrischen Präsidenten Asad das Heu nicht auf derselben Bühne. Doch in einem Punkt sind sie sich einig: Sie wollen nicht in den Krieg gegen das syrische Regime hineingezogen werden, und sie wollen nicht unter die Knute von Islamisten geraten. Genau dies droht aus kurdischer Sicht zurzeit jedoch in Rais al-Ain. In seltener Einmütigkeit haben sämtliche syrisch-kurdischen Parteien den Rebellen in der Stadt an der türkischen Grenze den Kampf angesagt. «Sie kämpfen nicht gegen das Regime, sondern gegen uns Kurden», sagte Nuri Brimo vom Kurdischen Nationalkongress (KNC). «Sie haben in Sere Kani nichts verloren.»
Islamisten gegen Kurden
Seit Tagen toben in Sere Kani, wie die Kurden Ras al-Ain nennen, schwere Kämpfe zwischen islamistischen Rebellen und der kurdischen Parti Yekiti Demokrati (Partei der Demokratischen Union; PYD). Die Auseinandersetzungen haben bereits mehrere Dutzend Tote gefordert, ein Grossteil der Bewohner ist geflüchtet. Laut Brimo haben die Rebellen kurdische Häuser überfallen und kurdische Jugendliche entführt.
Warum die Rebellen, die offenbar der Nusra-Front und einer Gruppe namens Ghuraba ash-Sham angehören, Ras al-Ain vor knapp zwei Wochen überfielen, ist unklar. Unter den Kurden wird spekuliert, dass die Türkei dahinter stehe. Bei beiden Gruppen handelt es sich jedoch um islamistische Extremisten, deren Erstarken in Syrien von der Türkei ebenso sehr wie von den Kurden gefürchtet wird. In einem im Internet veröffentlichten Video kündigten Kämpfer der Ghuraba ash-Sham eine Offensive auf die Provinzhauptstadt Hasaka an. Umrahmt von Dutzenden von Kämpfern, warnte der Sprecher die PYD davor, sich der Revolution in den Weg zu stellen.
Die PYD ist mit der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbündet. Nach dem Rückzug des Regimes Asad im Sommer hat sie mehrere mehrheitlich kurdische Gebiete im Norden und Nordosten von Syrien unter ihre Kontrolle gebracht. Dass die PYD dabei das Recht in die eigene Hand nahm, kurdische Aktivisten verhaftete und nach Angaben von syrisch-kurdischen Oppositionellen auch Kritiker umbrachte, hat den Gegensatz zum KNC vertieft. An einem Treffen in Erbil bekräftigten Vertreter der PYD und des KNC, dem 16 Parteien angehören, am Donnerstag jedoch ein Abkommen vom Juli.
Dieses sieht vor, dass ein Hoher Kurdischer Rat, dem beide Seiten angehören, die kurdischen Gebiete verwaltet. Mit der Warnung an die Islamisten in Ras al-Ain stellte sich der KNC zudem demonstrativ hinter die PYD. Die Kämpfer der PYD, die an der Seite der PKK an Gefechten gegen türkische Truppen teilgenommen hatten, sind die Einzigen, die den Islamisten die Stirn bieten können. «Wir haben keine Kämpfer», sagt Brimo vom Kurdischen Nationalkongress. «Aber wir haben unsere Jugend zur Selbstverteidigung aufgerufen.»
Distanz zur Opposition
Damit schwinden auch die Aussichten, dass sich die Kurden dem kürzlich in Katar gegründeten Oppositionsbündnis mit dem umständlichen Namen «Nationale Koalition der syrischen revolutionären und oppositionellen Kräfte» anschliessen. Allen voran Washington fordert, dass die Koalition ihre Fähigkeit, alle Syrer zu vereinen, unter Beweis stellen müsse. Die islamistischen Extremisten lehnen das Bündnis ab, und die Kämpfe in Ras al-Ain haben gezeigt, dass sie nicht daran denken, seinen Befehlen zu folgen. Zwei Kommandanten der Freien Syrischen Armee, die von der Türkei unterstützt werden, haben den Abzug der Islamisten gefordert – vergeblich.
Die Golfstaaten, die Türkei und einige europäische Länder haben die Nationale Koalition inzwischen als legitime Vertretung der Syrer anerkannt. Abdelbasset Saida, der zurzeit wohl prominenteste syrische Kurde, hat seine Landsleute aufgefordert, dem Schritt zu folgen. Doch Saida besitzt unter den Kurden keine Hausmacht, obwohl er mehrere Monate Vorsitzender des Syrischen Nationalkongresses (SNC) war, der sich nach anfänglichem Zögern der Koalition angeschlossen hat. Die Koalition sei zwar repräsentativer, zeige gegenüber den Kurden aber so wenig Kompromissbereitschaft wie der SNC, sagt Brimo. Die Forderungen des KNC seien klar. Erstens müsse die Opposition die Existenz der Kurden und deren Territorium anerkennen.
Zweitens verlange man internationale Garantien. Die Opposition lehnt derart weitreichende Entscheidungen ab, solange Asad noch an der Macht ist. Solche Entscheide könnten erst in einem freien Syrien gefällt werden, heisst es.
Wie die Alawiten, Christen und Drusen misstrauen die Kurden den sunnitischen Arabern, die in Syrien die Mehrheit bilden und den Aufstand tragen. Dass unter den Aufständischen in jüngster Zeit die Extremisten an Einfluss gewonnen haben, bestärkt ihre Zweifel an einem für sie vorteilhaften Ausgang der Revolution. «Die Parole der Islamisten lautet: ‹Die Alawiten in den Sarg, die Christen nach Libanon›», sagt Gharbi Hasso von der syrisch-kurdischen Zukunftspartei. «Wie sollen wir solchen Leuten vertrauen?»
Ein eigener Weg
Die Kurden gehen deshalb lieber ihren eigenen Weg. Dabei ist Erbil, die Hauptstadt des kurdischen Teilstaats im Nordirak, in den letzten Monaten zur Drehscheibe für die syrisch-kurdische Opposition geworden. In den Hinterzimmern der Politik beraten die Oppositionellen über jeden Schritt.
Für viele Kurden ist Syrien der nächste Baustein für jenen kurdischen Staat, um den sie ihrer Ansicht nach von den Kolonialmächten nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs vor fast hundert Jahren gebracht worden waren. West-Kurdistan nennen sie die Gebiete, die von Afrin im Westen über Hasaka im Süden bis Kamishli im Osten reichen. In der Region leben auch viele Araber und Christen. In dieser Region liegt auch ein Teil der Ölfelder Syriens. Vor allem dort hat das Regime Asad in den letzten Jahrzehnten Araber angesiedelt. Zwar sind die syrischen Ölvorkommen vergleichsweise gering, doch Konflikte wie im Irak scheinen vorprogrammiert. «Wir müssen einen Konflikt mit den Arabern verhindern», sagt Brimo, «aber dies ist unser Land.»
Unter dem Druck Irans
Die stärkste Partei unter den syrischen Kurden ist die PYD, wie die meisten Oppositionellen einräumen. Die Türkei hat deutlich gemacht, dass sie ein syrisch-kurdisches Autonomiegebiet unter der Kontrolle der PYD nicht dulden würde. «Wir haben eine 800 Kilometer lange Grenze mit der Türkei», sagt Hasso von der Zukunftspartei, die ebenfalls dem KNC angehört. «Wir brauchen die Türkei.» Politiker wie er hoffen darauf, dass sie die PYD in den Hohen Rat einbinden und zu einer Mässigung ihrer antitürkischen Rhetorik bewegen können.
Die Türkei ist freilich nicht die einzige Regionalmacht, die den kurdischen Aspirationen im Weg im steht. Im Osten stehen die Kurden unter Druck Irans, das unverbrüchlich hinter dem syrischen Diktator steht. «Wir Kurden stehen im Zentrum einer riesigen regionalen und geopolitischen Verschiebung», sagt Hasso. «Unser Ziel ist es, dafür möglichst wenige Opfer erbringen zu müssen.»
nzz.ch
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