Fieberhafter Aufbau im nordirakischen Kurdenstaat

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Fieberhafter Aufbau im nordirakischen Kurdenstaat

von Azadiyakurdistan am 17.07.2012 14:13

Im Schatten des Machtkampfs zwischen Schiiten und Sunniten blüht der kurdische Teilstaat im Nordirak. Frei von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien und angetrieben von Erdölerlösen, entsteht ein eigenständiges Staatsgebilde.



Inga Rogg, Erbil

Nur ein paar Meter trennen uns noch von der Aussicht auf sorglose Spaziergänge, Restaurantbesuche bis spät in die Nacht und fast vierundzwanzig Stunden Strom am Tag. Dutzende von Checkpoints haben wir passiert, seit wir am frühen Morgen von Bagdad nach Erbil aufgebrochen sind. Gelegentlich wollten die Soldaten oder Polizisten die Fahrzeugpapiere sehen, doch meistens haben sie uns durchgewinkt. Aber jetzt, kurz vor unserem Ziel, müssen wir aussteigen und uns einer peniblen Kontrolle unterziehen. «Wo ist eure Aufenthaltsgenehmigung?», will der kurdische Soldat wissen. Der Checkpoint südlich von Erbil markiert die innerirakische Grenze zwischen Kurdistan und dem Rest des Landes. Schritt um Schritt haben ihn die Kurden in den letzten Jahren zu einer zwischenstaatlich wirkenden Grenzstation ausgebaut; mit Überwachungskameras, Flutlichtanlage und Wartesaal.

Eine innerirakische Grenze

Ein Soldat kontrolliert die Ausweise und händigt uns einen Notizzettel für einen Kollegen aus. Dieser kontrolliert die Ausweise noch einmal. «Du kannst gehen», sagt der Soldat zu der Ausländerin, «bei dir ist alles in Ordnung.» Das Visum aus Bagdad erkennen auch die Kurden an. Immerhin. Umgekehrt ist das nicht der Fall. Meine irakischen Begleiter müssen an einen weiteren Schalter. Wieder gibt es einen Notizzettel, auf dem eine Nummer notiert wird.

Viel ist nicht los an diesem Tag. Ein türkischer Reisebus mit Irakern, die eine Woche Pauschalferien in der Türkei gebucht haben, eine Gruppe von Arbeitern aus dem Südirak, die auf den Baustellen in Erbil schuften, und ein paar Geschäftsleute, etwa hundert Personen sind es. Vor dem Schalter hat sich eine lange Schlange gebildet. Der Beamte gibt Namen, Adresse und Ausweisnummer in eine Datenbank ein, dann macht er mit einer kleinen Kamera eine Fotografie, die ebenfalls abgespeichert wird. Nach einer Stunde haben es auch die Iraker geschafft. Sie erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung. Eine Woche lang dürfen sie im «anderen Irak» bleiben. Mit diesem Slogan werben die Kurden für ihren Teilstaat um ausländische Investoren.

Der Checkpoint dient nicht nur dazu, potenzielle Terroristen fernzuhalten. Er markiert den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grat zwischen dem «anderen» und dem «eigentlichen» Irak. Während arabische Aufständische die Amerikaner bekämpften und sich Sunniten und Schiiten gegenseitig umbrachten, haben die Kurden einen anderen Weg eingeschlagen. Sie haben den Amerikanern, aber auch den Koreanern, die zeitweise in Kurdistan stationiert waren, den roten Teppich ausgerollt. Sie haben nicht nur untereinander, sondern auch mit dem mächtigen Nachbarn Türkei Frieden geschlossen und Investoren ins Land geholt.

Aufschwung nach dem Krieg

Vor zehn Jahren war Erbil fast so heruntergekommen und vom Krieg versehrt wie Bagdad. Elektrizität gab es, wenn überhaupt, während ein bis zweier Stunden am Tag. Erbil werde ein zweites Dubai, haben kurdische Politiker vor ein paar Jahren vollmundig verkündet. So weit ist es nicht gekommen. Wer in der kurdischen Hauptstadt nach architektonischen Preziosen sucht, wie man sie in Dubai findet, wird schnell enttäuscht. In Erbil herrschen Mittelmass und eine nahöstliche Biederkeit. Doch der Wandel, der in den letzten Jahren eingesetzt hat, ist so fundamental, dass man die Orientierungspunkte aus der Zeit vor dem Sturz von Saddam Hussein schon fast suchen muss. Das ehemalige «Sheraton-Hotel» im Zentrum, einst von Einschusslöchern übersät und so schwer beschädigt, dass es einzustürzen drohte, wurde saniert und mit einer Glashülle versehen. Heute heisst es «Erbil International». Den Rang eines Luxushotels hat das Haus abtreten müssen an eine neue Herberge namens «Erbil Rotana». Dort kostet eine Übernachtung 350 Dollar, ein italienischer Chef kocht für die Gäste, und ein Bar-Pianist sorgt für die Ambiance.

Gleich nebenan befindet sich eine der grössten Parkanlagen des Iraks und die grüne Lunge der Stadt. Und um die Ecke befindet sich das Erbil Speed Center mit der ersten Gokart-Bahn des Landes, auf deren grosszügigen Circuits sich Kurden wie Ausländer einmal wie Lewis Hamilton fühlen dürfen. «Dream City», «English Village», «Italian Village» oder «Swedish Village» nennen sich die Neubauviertel, die im Nordwesten der Stadt, wo sich das «Rotana» sowie der Flughafen befinden, in den letzten neun Jahren aus dem Boden gestampft wurden. Uniforme Vorstadtidyllen für Neureiche und Ausländer. Mit 24 Stockwerken ist das Hotel «Divan» derzeit das höchste Gebäude, doch kaum für lange. Um das Hotel herum entsteht die «Royal City», eine Wohnsiedlung mit zehnstöckigen Blocks und Villen der Luxusklasse. Die christliche Gemeinde Ainkawa, die einst vor den Toren der Stadt lag, ist mittlerweile an die Stadt angeschlossen. Die äussere Ringstrasse, die vor ein paar Jahren noch die Stadt umrundete, ist vom baulichen Wildwuchs überwuchert. Längst frisst sich die Stadt in alle Himmelsrichtungen in die trockene Ebene vor.

Erbils Einwohnerzahl liegt derzeit bei etwa einer Million. Anders als in Bagdad wird die Infrastruktur dem Wachstum angepasst. Während sich in der irakischen Hauptstadt die Strassen bei Regen in Seen verwandeln, sind hier selbst kleinste Seitenstrassen geteert. Die Abwasserversorgung funktioniert, und selbst in Aussenbezirken wirkt die Stadt sauber.

Mafiöse Strukturen

Nach Angaben der lokalen Behörden beläuft sich das Investitionsvolumen der letzten sechs Jahre auf 19 Milliarden Dollar. Für dieses Jahr allein wird mit 7 Milliarden Dollar gerechnet. Wer in Erbil jedoch einen Grossauftrag wolle, komme an der Familie des Regionalpräsidenten Masud Barzani nicht vorbei, sagt ein gut vernetzter Geschäftsmann. Die Praktiken, die er beschreibt und die von anderen bestätigt werden, muten mafiös an. Zwischen 20 und 49 Prozent Beteiligung fordere die Barzani-Familie bei jedem Grossprojekt, erzählt der Informant. Dabei schrecke die Familie auch vor Drohung und Erpressung nicht zurück. «Sie machen so lange Druck und verweigern dir die nötigen Papiere, bis du nachgibst.» Ausländische Firmenvertreter klagen ebenfalls über Korruption und eine undurchsichtige Bürokratie. Iraker aus Bagdad sehen es pragmatischer. «Unsere Politiker sind korrupt und tun nichts für uns», sagt einer. «Hier sind sie korrupt, aber sie tun etwas für ihre Leute.»

Was in der ersten Boomphase in die Höhe gezogen wurde, ist inzwischen nur noch zweite Wahl. Viele Apartments in «Dream City» stehen leer. Der einstmals exklusiven «Nishtiman Mall» im Stadtzentrum haben inzwischen noch schickere und luxuriösere Einkaufszentren am Stadtrand den Rang abgelaufen. Die Geschäfte in den Shoppingcentern bieten die weltweit üblichen Marken an, auch französischen Weichkäse und Schweizer Uhren der gehobenen Preisklasse. Ob all dem Luxus geht fast vergessen, dass ein Monatslohn von 450 Franken in Erbil als Durchschnittseinkommen gilt.

Wichtigster Arbeitgeber ist nach wie vor der Staat. Zugleich ist die Regierung der grösste Investor. Finanziert wird das über die irakischen Erdölerlöse, von denen die kurdische Regierung 17 Prozent erhält. Das ist es auch, was die Kurden wirtschaftlich noch an Bagdad bindet, was sich aber schon bald ändern könnte. In den letzten Jahren hat die Regionalregierung mit 48 ausländischen Ölfirmen Verträge abgeschlossen. Sehr zum Ärger der Zentralregierung, aus deren Sicht die kurdischen Verträge illegal sind. Der Streit um die Energiepolitik hat bisher auch die Verabschiedung des Erdölgesetzes verhindert, das als wichtigster Baustein für die Beilegung der internen Konflikte und den Erhalt des Staates gilt. Genau deshalb ist das Gesetz für Bagdad wichtiger als für die Kurden, denn ihnen erlaubt die rechtliche Grauzone, unbeirrt ihren eigenen Weg zu forcieren.

Die Förderquote in Kurdistan liegt derzeit bei rund 250 000 Barrel pro Tag, binnen eines Jahres soll die Menge verdoppelt und bis 2019 sogar auf 2 Millionen Barrel gesteigert werden. Wegen eines Streits mit der Zentralregierung um die Bezahlung der Firmen exportieren die Kurden derzeit kein Öl, ein Teil wird lokal raffiniert, ein Gutteil werde jedoch nach Iran und in die Türkei geschmuggelt, sagen Insider. Kürzlich hat die Regionalregierung jedoch mit türkischen Firmen einen Vertrag über den Bau von zwei Pipelines abgeschlossen, über die sie bereits in einem Jahr ihr Erdöl und später auch Erdgas exportieren will. Die bestehenden Pipelines unterliegen der Kontrolle der staatlichen Vermarktungsgesellschaft, entsprechend geharnischt hat man in Bagdad auf den Plan reagiert.

Zwar versicherte Erbil, dass die Erlöse in die Staatskasse fliessen werden. Aber: Erst nach Abzug der 17 Prozent für Kurdistan. Sollten die Pipeline-Pläne realisiert werden, wäre dies für die Kurden ein Meilenstein auf dem Weg in die Unabhängigkeit. Interessanterweise wird das Vorhaben mit ausdrücklicher Billigung der türkischen Regierung vorangetrieben. Zwar ist eine Aufspaltung des Iraks für Ankara nicht akzeptierbar. Doch nicht nur wirtschaftlich, auch politisch sind die Beziehungen mit den irakischen Kurden so gut wie noch nie. Dabei haben die Konflikte mit Iran und in Syrien die Annäherung noch bestärkt.

Neue Achse Erbil–Ankara

In beiden Konflikten stehen sich Ankara und Erbil näher als Ankara und Bagdad, wo Teheran seit dem Abzug der Amerikaner noch mehr an Einfluss gewonnen hat. Angesichts der Stürme in der Region sind die irakischen Kurden für die Türkei heute eher ein Ordnungs- denn ein Störfaktor. Ob der Honeymoon diese Phase überdauert, lässt sich schwer sagen. Im Moment jedenfalls kann ihn nicht einmal die türkisch-kurdische PKK stören. Deren Verstecke im kurdischen Teilstaat bombardiert die Türkei zwar regelmässig. Dass wie früher türkische Panzer über die Grenze in den Nordirak rollen, kann sich inzwischen jedoch kaum noch jemand vorstellen. Denn die Region ist mittlerweile auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Das Volumen des Handels mit dem Irak erreichte im letzten Jahr 11 Milliarden Dollar, den Grossteil davon wickelte die Türkei mit Kurdistan ab.

Manch einer verdächtigt die Türkei, dass sie das Vilayet Mosul wiederbeleben will, eine Provinz des Osmanischen Reichs, zu der auch Kurdistan gehörte. Spuren der Osmanen findet man heute nur noch auf der Zitadelle, die vor über 6000 Jahren schon besiedelt war. Den Basar unter der Zitadelle hat die Regierung hinter eine neo-islamische Arkade verbannt. Ein Teil der historischen Bausubstanz musste einem Platz mit Wasserfontänen und einer Nachahmung des Londoner Tower weichen. Europa ist auch das Ziel, wohin die meisten Kurden wollen. Für die Jungen ist der Irak ein fremdes Land. Sie sprechen kein Arabisch, und nur wenige waren jemals in Bagdad. Während ihre Eltern einen eigenen Kurdenstaat noch als Wunschtraum bezeichnen, ist es für viele Jugendliche nur eine Frage der Zeit, bis er Realität wird.

www.nzz.ch

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