Flüchtlingslager in Kurdistan: Im toten Winkel der Welt
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Flüchtlingslager in Kurdistan: Im toten Winkel der Welt
von Azadiyakurdistan am 03.06.2013 01:03Sie kommen aus dem Krieg, ihre Endstation ist die Hoffnungslosigkeit. Zehntausende Flüchtlinge aus Syrien suchen Zuflucht im Nachbarland Irak. Auch Refa und ihre Familie leben jetzt im Lager Domiz. Ihr größter Wunsch: Sie wollen so schnell wie möglich zurück in die Heimat.
Mit Sorgenfurchen auf der Stirn streicht Refa über ihren gewölbten Bauch. Die Frau in dem bodenlangen grünen Kleid mit dem roten Kopftuch ist erst Mitte Dreißig, aber ihre Hände sind die einer alten Frau. Refa steht im Eingang eines Zeltes, der Wind ist heiß, der Staub kratzt in den Augen. In wenigen Wochen wird hier am Mittag das Thermometer auf über 50 Grad klettern. "Ich habe einfach Angst", sagt Refa. Sie ist im achten Monat schwanger.
Vor vier Monaten ist Refa aus Damaskus geflohen, zusammen mit ihrem Mann Nadim und ihren beiden Kindern Reber und Resta. Wie packt man für eine Flucht in die Ungewissheit? Am Ende ist doch alles Gepäck zu viel, um es weit zu tragen. Und zu wenig für ein neues Leben. Refa ist mit ihrer Familie quer durch Syrien bis zur Grenze gefahren. Den letzten Teil des Weges musste die Schwangere zu Fuß gehen, zwei Stunden lang, dann lagen fast tausend Kilometer zwischen ihr und ihrer Heimat.
Im Camp Domiz im Nordwesten der autonomen Republik Kurdistan im Irak teilen Zehntausende syrische Flüchtlinge das Schicksal von Refa. Das Ende der schmutzig braunen Zeltstadt in der Nähe der Stadt Dohuk verschwimmt mit dem staubigen Horizont.
Schwere Belastungsprobe für den Irak
"Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab", erklärt Khalid Hussein Qassim, Leiter des Camps, an manchen Tagen erreichten bis zu tausend neue Flüchtlinge das Lager. Die Zeltstadt wurde im April 2012 errichtet, für rund 30.000 Menschen. Inzwischen leben dort schätzungsweise 140.000 Flüchtlinge aus dem Nachbarland. Die meisten von ihnen sind syrische Kurden, die vor den Kämpfen in ihrer Heimat geflohen sind. Sie stammen wie Refa aus der Hauptstadt Damaskus, oder aus Aleppo, aus Homs, aus all den Städten, die in den letzten Monaten zu Synonymen geworden sind für Heckenschützen, Menschenrechtsverletzungen, Todesangst.
Laut Angaben der UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, hat der Konflikt in Syrien bislang rund 1,5 Millionen Menschen aus dem Land vertrieben. Die meisten fliehen in den Libanon, die Türkei oder nach Jordanien. Aber viele suchen auch Zuflucht im Irak. Für das Land, dessen eigene Kriegsnarben noch lange nicht verheilt sind, eine schwere Bewährungsprobe. In der Republik Kurdistan leben gerade einmal rund fünf Millionen Einwohner. Zum Vergleich: Das wäre in etwa so viel, wie wenn Deutschland innerhalb eines Jahres zwei Millionen Flüchtlinge auffangen müsste.
"Die Flüchtlinge hier haben das Gefühl, dass sie übersehen werden", sagt Camp-Leiter Qassim. Das Camp liege im toten Winkel der Weltöffentlichkeit. Die Regionalregierung von Kurdistan bemüht sich, die Flüchtlingswelle so gut wie möglich aufzufangen. 15 Millionen Dollar hat sie allein im vergangenen Jahr für das Camp ausgegeben. Gerade hat der Ministerrat zehn weitere Millionen genehmigt, demnächst soll in der Nähe von Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan, ein weiteres Flüchtlingslager entstehen.
Im Lager herrscht offenbar kein Mangel an Nahrungsmitteln oder Wasser. Es gibt ein Krankenhaus, das von der Organisation Ärzte ohne Grenzen betrieben wird, Schulen für die Kinder, die meisten Lehrer sind selbst Flüchtlinge aus dem Lager. Alle erhalten mit ihrer Registrierung eine Arbeitsgenehmigung und eine Aufenthaltserlaubnis im Land. "Die Flüchtlinge hier sind frei", erklärt Qassim, "sie werden wie normale Bürger behandelt."
Viele Flüchtlinge sind traumatisiert
Inzwischen haben auch deutsche Politiker das Lager besucht. Claudia Roth von den Grünen war im April vor Ort, im Mai verschaffte sich Nils Schmid, Finanz- und Wirtschaftsminister aus Baden-Württemberg, im Rahmen einer Delegationsreise nach Kurdistan einen Überblick von der Situation der Flüchtlinge. "Die Menschen werden hier offensichtlich gut versorgt, dennoch ist die aussichtslose Lage der Familien bedrückend", so Schmid.
Die größten Sorgen bereiten den Verantwortlichen die männlichen Flüchtlinge, die alleine aus Syrien fliehen. Sie sind in einem eigenen Teil des Lagers untergebracht, getrennt von den Familien, unter ihnen sind auch ehemalige Kämpfer der Truppen von Präsident Baschar al-Assad - und solche, die zeitweise auf Seiten der Rebellen standen. Nicht wenige von ihnen sind traumatisiert, "sie tragen Frust und Wut im Bauch", erklärt Lailan Dosky, eine Mitarbeiterin des Camps, "wo sollen sie ihre Energie rauslassen?" Viele wüssten nicht, was aus ihren Familien geworden ist, "wer keine Arbeit findet, kann nur hier sitzen und warten", sagt Dosky. Das zermürbe die Menschen, führe zu Aggressionen. Der Rückhalt in der kurdisch-irakischen Bevölkerung sei derzeit noch sehr groß, aber auch das könne sich natürlich ändern, wenn immer mehr Flüchtlinge ins Land strömen, befürchtet er.
Lange Zeit hielten die syrischen Kurden Assad und die Rebellen gleichermaßen auf Distanz, doch inzwischen geraten auch sie immer mehr zwischen die Fronten des Krieges .
Nadim, der Mann der schwangeren Refa, scheint wie viele Flüchtlinge im Lager Domiz nicht zu wissen, auf welcher Seite er politisch stehen will, stehen soll, stehen darf. "Wir wollen nur Frieden", sagt Nadim deshalb. Er schaut fragend, als könnte auch diese Antwort falsch sein. Refa hingegen verschwendet keine Gedanken an die Politik, sie hat ihren Sohn und ihre Tochter per Kaiserschnitt geboren und hat nun Angst, dass auch ihr drittes Kind per Operation zur Welt kommen muss, dass sie es dann nicht schnell genug von ihrem Zelt ins Krankenhaus schafft. "Wir wollen einfach so schnell wie möglich zurück nach Hause."
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Silav û Rêz
Azad