Inhaftierter PKK-Chef Öcalan handelt Frieden aus
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Inhaftierter PKK-Chef Öcalan handelt Frieden aus
von Azadiyakurdistan am 22.03.2013 00:18Der Kurdenführer sitzt seit 14 Jahren im Gefängnis. Aber er hat noch immer viel Einfluss. Das weiß auch die türkische Regierung. Sie hat mit ihm einen historischen Waffenstillstand verhandelt. Von Boris Kálnoky
Er galt lange als Staatsfeind Nummer 1 und ist nun zum größten Hoffnungsträger avanciert: Abdullah Öcalan, seit 14 Jahren in Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer vor Istanbul. Pünktlich zum kurdischen Neujahrsfest "Newroz" riefen kurdische Politiker in seinem Namen zu einer "historischen" Waffenruhe und zu Verhandlungen für eine Friedenslösung auf. Öcalan habe darüberhinaus verfügt, dass sich die kurdischen Kämpfer aus der Türkei zurückziehen sollen, hieß es einer in Diyarbakir vor Hunderttausenden Menschen in kurdischer Sprache verlesenen Erklärung des Kurdenführers.
Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan begrüßte das Waffenstillstandsangebot. Er betrachte die Erklärung von Öcalan als eine "positive Entwicklung". Wichtig sei nun aber, dass der Aufruf auch umgesetzt werde.
Öcalans Manifest ist das Produkt geheimer Verhandlungen mit der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die seit Ende vergangenen Jahres geführt wurden. Erdogan hatte diesen neuen Friedensprozess zur Chefsache mit oberster Priorität erklärt. Deshalb stehen die Chancen besser als je zuvor, den seit Jahrzehnten andauernden Kurdenkonflikt, der mehr als 40.000 Todesopfer auf beiden Seiten forderte, endgültig beizulegen.
Nach Öcalans Appell richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf das Geschehen in Südostanatolien selbst. Öcalan habe die "Sprach des Friedens" gesprochen, sagte der türkische Innenminister Muammer Güler. "Nun muss man die Umsetzung sehen." Erdogan kritisierte allerdings, dass bei der Newroz-Feier in Diyarbakir keine einzige türkische Fahne zu sehen gewesen sei. Das widerspreche Öcalans Botschaft des Friedens zwischen Kurden und Türken. Er hoffe aber, dass die Türkei die Probleme überwinden werde.
Geheime Verhandlungen
Die kurdische Partei BDP und eine Vielzahl anderer Kurdenorganisationen hatten sich bemüht, dieses Newroz-Fest zum größten Massenereignis in der Geschichte der türkischen Kurden zu machen. Journalisten waren schon lange zuvor angesprochen, Live-Übertragungen eingerichtet worden. Auch der Slogan der Veranstaltungen ließ keinen Zweifel daran, was die Kurden vom Friedensprozess erwarten: "Freiheit für Öcalan – Status für die Kurden."
Noch vor kurzem wären solche Anliegen – als konkrete Perspektiven – völlig abwegig erschienen. Aber heute ist eine neue Verfassung, die die Kurden als Minderheit oder gar, wie sie selbst fordern, als "Ko-Nation" anerkennt, nicht mehr undenkbar. Erdogan, dessen Regierungspartei AKP an einem neuen Grundgesetz arbeitet, ohne jedoch dafür genug Stimmen im Parlament zu haben, drohte gar kürzlich, er werde es notfalls mit der BDP durchbringen, wenn die anderen Oppositionsparteien nicht kompromissbereit seien.
Die BDP hatte vor einer Woche auch aufgezählt, was aus ihrer Sicht realistisch und nötig sei. Sie ließ auch durchblicken, inwieweit der türkische Staat den Kurden entgegenkommen würde: Eine Formalisierung des Verhandlungsprozesses durch das Parlament, die Ausrufung eines Waffenstillstandes auch durch den türkischen Staat, die Einrichtung offizieller bilateraler Kommissionen zu diversen Themen der Verhandlungen sowie bedeutend mehr Freiraum für Öcalan, der als "Koordinator" der Kurden fungieren solle.
Mehr Rechte für die Kurden
Ein politischer Schlüsselpunkt scheint zu sein, dass die Kurden bereit wären, Erdogans Pläne zu unterstützen, ein präsidiales System zu schaffen (mittels der neuen Verfassung), wenn andererseits dann die Regionen, also auch die kurdischen Regionen, mehr Selbstverwaltungsrechte bekämen. Sollte es tatsächlich zu einem positiven Abschluss des nun beginnenden Prozesses kommen, dann würden sowohl Erdogan als auch Terror-Chef Öcalan damit in die Geschichte eingehen.
Erdogan, der seit Beginn seiner AKP-Regierung immer wieder signalisiert hatte, er wolle eine Aussöhnung mit den Kurden erreichen, hätte das Land damit auf eine neue, gerechtere Grundlage gestellt und im Grunde ein Versprechen eingelöst, das bereits Staatsgründer Mustafa Kemal "Atatürk" den Kurden einst gegeben, aber nicht eingelöst hatte: Dass sie ein gewisses Maß an Autonomie erhalten würden. Öcalan hingegen würde fortan als der Mann gelten, der – wenngleich mit brutalen Methoden – eine kurdische Identität geschaffen und seinem Volk zu mehr Anerkennung und Freiheit verholfen hat.
Geboren wurde Öcalan 1949 als eines von sieben Kindern eines Landarbeiters im anatolischen Dorf Ömerli. In Ankara studierte er Politikwissenschaft und gründete 1974 die Studentengruppe "Apocus" mit marxistisch-nationalistischem Programm. 1978 wurde daraus die die anfangs stalinistische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK, Partiya Karkeren Kurdistan), die Öcalan mit eiserner Hand führte. PKK-Dissidenten wurden in den vergangenen Jahrzehnten reihenweise getötet.
Bewaffneter Kampf seit 1984
Nach dem türkischen Militärputsch 1980 musste der von seinen Anhängern liebevoll "Apo" (Onkel) genannte Öcalan nach Syrien fliehen. Jahrelang konnte er auf die Unterstützung Syriens zählen. Erst 1998 ließ Damaskus Öcalan fallen, weil ein Krieg mit dem Nachbarland drohte. Öcalan und seine PKK nahmen 1984 den bewaffneten Kampf für einen eigenen Staat der Kurden oder zumindest ein Autonomiegebiet im Südosten der Türkei auf.
Der von ihr angezettelte Bürgerkrieg führte in den 90-er Jahren zu ethnischen Säuberungen durch die türkische Armee, die mit den fast zeitgleich geschehenen Gräueln in Bosnien vergleichbar waren. Die Europäische Union stuft die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen als Terrorgruppen ein.
Mehr als 3000 kurdische Dörfer wurden gezielt zerstört, ihre Einwohner vertrieben. Im Jahr 1999 gelang es den Türken endlich mit US-amerikanischer Hilfe, Öcalan 1999 in Nairobi zu fassen. Er wurde vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Seine PKK bat er, offenbar in Todesangst, die Waffen ruhen zu lassen. Tatsächlich wurden die Kampfhandlungen zunächst weitgehend eingestellt.
Dann kam die AKP an die Macht. Sie bewarb sich aktiv um die Aufnahme in die Europäische Union, und Brüssel forderte daraufhin unter anderem die Abschaffung der Todesstrafe. Ankara kam dieser Forderung nach. Das rettete Öcalan, seine Strafe wurde im Jahr 2002 in lebenslängliche Haft umgewandelt.
Mit der AKP kam vorübergehend Tauwetter
Nun setzte Tauwetter ein in der kurdischen Frage. Es gab Verhandlungen über eine Amnestie, die im Jahr 2003 sogar kurz vor dem Durchbruch schienen. Es scheiterte aber wohl an der Weigerung der Türken, eine Amnestie auch für die Führer der PKK anzubieten, statt nur für das Fußvolk.
Offenbar kam es nach dieser Phase zu riskanten Kalkulationen auf beiden Seiten. Bei der PKK gab es Befürchtungen, dass die lange Untätigkeit ihr Profil und ihr Ansehen in der Bevölkerung verblassen lasse – man müsse wieder kämpfen, um nicht in der Bedeutungs- und Belanglosigkeit zu versinken.
Bei der AKP wiederum wurde verkannt, dass die Kurdenfrage ohne eine politische Einigung mit der PKK nicht lösbar war. Man gab sich der Illusion hin, dass der Islam als Bindemittel zwischen Kurden und Türken wirken könne, dass es gelingen werde, die Kurden von der PKK weg und hin zur AKP zu locken. Zugleich sollte die PKK militärisch geschwächt werden. Der Krieg flammte wieder auf.
Grenzüberschreitende Kämpfe gegen kurdische Guerilla
Dabei verbuchte die PKK zeitweilig spektakuläre Erfolge, während die türkischen Streitkräfte gelegentlich in den Nordirak vorrückte, um die Guerilla in ihren Rückzugsgebieten zu bekämpfen. Der arabische Frühling und der damit ausgelöste syrische Bürgerkrieg führte zu einer neuer Verschärfung der Lage. Plötzlich gab es nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien ein "freies" Kurdengebiet.
Bei der PKK wuchs die Zuversicht, dass die Geschichte auf ihrer Seite stehe. Im vergangenen Sommer versuchte sie erstmals, der türkischen Armee, einer der stärksten der Welt, in geordneten Schlachten die Stirn zu bieten und Gebiete dauerhaft zu "befreien" und einen Volksaufstand auszulösen.
Das misslang unter hohen Verlusten, aber es erschütterte die türkische Führung – die Erfolge der Rebellen waren größer gewesen, als in den Medien berichtet. Es war in all den Jahren nicht gelungen, den Rückhalt der PKK in der Bevölkerung zu schwächen. Auch die demografische Entwicklung bot Ankara Grund zur Sorge: Der kurdische Anteil an der türkischen Bevölkerung steigt kontinuierlich, weil die Kurden weit höhere Geburtenraten haben als die Türken, die sich in größerem Maße europäischen Werten annähern, was auch mit einer geringeren Geburtenrate einhergeht.
Erdogan beschloss, das Ruder herumzureissen
Erdogan beschloss schließlich, das Ruder herumzureißen. Kontaktaufnahmen mit der PKK hatte er immer wieder einmal veranlasst, und sogar, im Jahr 2009, eine "Öffnung" in der Kurdenfrage versucht, die jedoch zu einer solchen Empörung in der türkischen Gesellschaft führte, dass sie abgebrochen werden musste.
Er hat daraus gelernt: Vor seiner vorerst letzten und intensivsten Initiative scheint er sich mit der größten Oppositionspartei CHP abgesprochen zu haben. Wenn das Unternehmen gelingen soll, muss das Sperrfeuer der Opposition sich in gewissen Schranken halten, damit die Volksseele nicht überkocht.
Das größte Hindernis für einen historischen Ausgleich ist seit einigen Jahren beseitigt: Die politische Macht des Militärs. Sie scheint ein für alle Mal gebrochen zu sein. Die traditionell stark säkular geprägte Armee war der Feind sowohl der AKP, weil sie islamisch ist, als auch der Kurden, weil die Armee in ihnen Separatisten gesehen hat.
Militärs vor Gericht gestellt
Mit rechtsstaatlich teilweise fragwürdigen Methoden wurden zahlreiche Militärs beschuldigt, den Sturz der Regierung geplant zu haben und umgehend vor Gericht gestellt. Den letzten Schritt dieser Zähmung der Generäle aber kann nur eine neue Verfassung leisten, die das Militär – anders als bisher – der Kontrolle des Verteidigungsministers unterstellen würde.
Dass da aber noch genug Kräfte sind, die eine Einigung sabotieren wollen, dass zeigte sich, als im Vorfeld der Öcalan-Proklamation in Ankara zwei Bomben explodierten. In Paris wurden unlängst drei PKK-Aktivistinnen ermordet. Vielleicht endet am Ende wieder alles in Blut und Tränen. Auf beiden Seiten gibt es Unzufriedene, die keine Einigung wollen. Dennoch war die Chance noch nie so groß, einen der blutigsten Konflikte in Europa zu beenden.
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