Kurden starten Großoffensive in Syrien und Türkei
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Kurden starten Großoffensive in Syrien und Türkei
von Azadiyakurdistan am 17.08.2012 00:09
Die Türkei stellt sich als Großmacht dar, aber der Syrienkonflikt enthüllt ihre Ohnmacht: In Syrien kontrollieren die Kurden bereits ein Gebiet, in der Türkei startet die PKK eine massive Offensive. Von Boris Kálnoky
Es vergeht kaum ein Tag, an dem die türkische Regierung nicht auf die eine oder andere Art mit einer Intervention in Syrien droht: Wenn ein bestimmtes altes Osmanen-Grab in Gefahr geraten sollte, oder falls ein separates Kurdengebiet entsteht, oder falls noch mehr Flüchtlinge kommen, oder falls syrisches Militär der Grenze nahekommen sollte.
Aber nach Auffassung des wohl anerkanntesten westlichen Türkei-Experten Gareth Jenkins sind das größtenteils leere Drohungen. "Die Türkei kann und wird alleine nichts unternehmen. Wenn es zu einer Intervention kommt, dann nur international, unter amerikanischen Vorgaben und amerikanischer Führung", sagt er im Gespräch mit der "Welt".
Sein entscheidendes Argument: "Das Volk will keinen eigenmächtigen türkischen Militärschlag. Die Stimmung ist gegen eine Verwicklung in den syrischen Krieg. Sogar als vor einiger Zeit ein türkisches Flugzeug von den syrischen Kräften abgeschossen wurde, waren nur etwas mehr als 20 Prozent der Türken für eine militärische Reaktion. Inzwischen dürften es eher weniger geworden sein."
Assad-Regime zieht Truppen aus Kurdengebieten ab
Zwar drohe Außenminister Davutoglu, dass die Türkei die Entstehung eines separat geführten Kurdengebietes in Syrien nicht dulden, und notfalls eingreifen werde. "Aber letztlich wird die Türkei die Entstehung eines solchen Kurdengebietes wohl nicht dauerhaft verhindern können, falls es zu einem Zerfall Syriens kommt", sagt Jenkins. Das wisse man vermutlich man auch in Ankara – eine Intervention lohnt langfristig nicht.
"Wir sehen gegenwärtig eine Entwicklung, die der des Irak nach dem ersten Golfkrieg ähnelt, inklusive der Entstehung eines autonomen Kurdengebietes", meint Jenkins, der mehrere Bücher über das türkische Militär und den politischen Islam in der Türkei veröffentlicht hat.
Zu Beginn des Syrienkonflikts habe die PKK ihrem syrischen Verbündeten, der Kurdenpartei PYD, nur geraten, darauf zu achten, dass die Rechte der Kurden unter einer neuen Regierung möglichst ausgebaut werden sollten. Nun aber habe das bedrängte Assad-Regime seine Truppen aus den Kurdengebieten abgezogen. "Die PYD kontrolliert seither das Gebiet und sichert ein Mindestmaß an öffentlicher Ordnung." Gleichzeitig verlegte die PKK bis zu 1500 Kämpfer aus dem Nordirak ins syrische Kurdengebiet.
PKK startet massive Offensive in der Türkei
Die Lage hat sich insofern dramatisch zugespitzt, als die PKK zugleich eine massive Offensive in der Türkei startete. Drei Wochen lang wurde in der Region rund um den Ort Semdinli gekämpft, angeblich wurden dort Luftwaffe und zehntausende türkische Soldaten eingesetzt, weil die PKK zum ersten Mal überhaupt versuchte, eine feste Front aufzubauen, statt nur Anschläge zu verüben. Hunderte Kämpfer hatten offenbar den Auftrag, einen Volksaufstand anzuzetteln. Wenn das das Ziel war, misslang es gründlich.
In den Medien wurde aber spekuliert, dass das eigentliche Ziel der Operation darin bestand, vom Aufmarsch der PKK in Syrien abzulenken und türkische Kräfte auf türkischem Boden zu binden, um so eine Intervention in Syrien zu erschweren.
Jenkins glaubt nicht an diesen Zusammenhang und auch nicht daran, dass das syrische Regime hinter der neuen PKK-Strategie steckt: "Das Regime ist vollauf mit sich selbst beschäftigt und hat kaum noch Möglichkeiten, grenzübergreifend zu agieren. Die PKK hatte schon vor langem angekündigt, dass 2012 das Jahr werden würde, in dem niemand sie besiegen kann. Natürlich gibt es einen Zusammenhang mit Syrien, aber eher dergestalt, dass die objektive Lage dort die PKK zur Offensive ermutigt."
Politische Gefahr "erheblich"
Ein neues, von der PKK dominiertes autonomes Kurdengebiet in Syrien kann jedenfalls nicht im Interesse der Türkei sein. "Die Gefahr ist weniger unmittelbar militärisch", sagt Jenkins, "denn das Terrain eignet sich nicht für Infiltrationen von Syrien her in die Türkei. Sogar als die PKK in den 90er-Jahren ihre Hauptbasis in Syrien hatte, drangen ihre Kommandos dennoch lieber über die unwegsamere irakische Grenze in die Türkei ein."
Die politische Gefahr sei dagegen erheblich: "Es könnte in der Türkei selbst eine neue Dynamik auslösen, wenn nun auch in Syrien ein autonomes Kurdengebiet entsteht.. Da werden sich viele Kurden fragen: Warum nicht auch in der Türkei?"
Die Drohungen aus Ankara, dies notfalls militärisch verhindern zu wollen, seien insofern verständlich, und es gebe "auch ein irrationales, emotionales Element: Wenn die PKK in der Türkei weiterhin einen hohen Blutzoll einfordert, dann kann die öffentliche Meinung und auch die Gefühlslage der führenden Politiker kippen und Rache wollen."
Es sei aber dennoch eher zu erwarten, dass die Türkei so weitermacht wie bisher: Säbelrasseln, drohen, aber kein eigenmächtiger Einmarsch. Schon deswegen, "weil auch die USA kein Interesse daran haben können, dass die Türkei den Konflikt durch eine Intervention noch komplizierter macht."
Türkei spielt indirekte militärische Rolle im Konflikt
Überhaupt sei die türkische Syrienpolitik von einer für Ankara frustierenden, relativen Ohnmacht geprägt. Jenkins verwies auf ein Interview dieser Zeitung mit Außenminister Ahmet Davutoglu: "Das war vor 18 Monaten, und da sagte er, dass die Türkei sich als regionale Großmacht versteht, ohne deren Zustimmung in der Region nichts mehr machbar ist. Und seit 18 Monaten ist diese "Großmacht" nicht in der Lage, an der eigenen Grenze für Ordnung zu sorgen. Das ist natürlich ärgerlich für die Regierung, die gerne stark auftritt, aber in Syrien schwach aussieht." Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zeige vor allem, dass die seit einigen Jahren sehr selbstbewusst auftretende Türkei ihren Einfluss und ihre Möglichkeiten stark überschätze.
Auch ohne eine direkte Intervention spiele die Türkei natürlich schon jetzt eine indirekte militärische Rolle im Syrienkonflikt. "Mittlerweile gibt es einige kleinere Trainingslager für syrische Rebellen auf türkischem Boden. Aber die Ausbilder dort sind vor allem aus Katar."
Berichte, dass die Türkei neuerdings Stinger-Luftabwehrraketen an die Rebellen liefere, "habe ich auch gehört", sagt Jenkins, aber entgegen manchen Berichten "sind das wahrscheinlich keine Raketen aus türkischen Beständen oder gar türkischer Produktion. Wahrscheinlicher ist, dass die Stingers mit katarischem Geld und amerikanischer Zusitimmung auf dem internationalen Markt gekauft werden und die Türkei nur die Übergabe ermöglicht, über ihr Staatsgebiet."
Die Türkei liefere zwar durchaus selbst Waffen an die Rebellen, "aber soviel ich weiß, sind das bislang nur kleinere Waffen in relativ geringen Mengen."
Mehr Risiken als Chancen
Das wahrscheinlichste Szenario für eine Intervention sieht Jenkins in der eventuellen Errichtung einer "humanitären" Zone für Flüchtlinge entlang der türkischen Grenze. Aber auch das werde, wie jede denkbare Intervention, sicher nur dann erfolgen, wenn die USA dem zustimmten.
Insgesamt birgt der Konflikt für die Türkei mehr Risiken als Chancen, meint Jenkins: "Die Wirtschaftsbeziehungen hatten sich zuletzt sehr dynamisch entwickelt, davon ist jetzt natürlich kaum etwas übrig. Eine Irakisierung oder Libanisierung Syriens birgt die Gefahr, dass der Kurdenkonflikt in der Türkei auf eine neue Ebene gehoben wird. Eine andere Gefahr ist islamische Radikalisierung: Wenn sich in Syrien radikale muslimische Kräfte etablieren, die auch in die Türkei hineinwirken."
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