Die kurdische Front

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Kudo21
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Die kurdische Front

von Kudo21 am 03.08.2012 21:00

Syrien Im Norden geben sich Städte wie Kobani eine demokratische Verwaltung. Nun steigen die Spannungen mit der Freien Syrischen Armee und der Türkei


Checkpoints unter kurdischen Fahnen sind Vorposten der kurdischen Autonomie in Nordsyrien

Seit gut drei Wochen wird die im Norden Syriens gelegene Stadt Kobani – auf Arabisch heißt sie Ain Al-Arab – von kurdischen Milizen gehalten. Wer sich davon überzeugen will, muss eine beschwerliche Anfahrt in Kauf nehmen. Die Region in Grenznähe zur Türkei gleicht von der Machtverteilung her einem Flickenteppich. Kurdisch kontrollierte Städte gehen in Gebiete über, die in der Hand von Regierungstruppen sind. Immer wieder werden deshalb während der Tour nach Kobani Späher vorausgeschickt, um mögliche Checkpoints rechtzeitig umfahren zu können oder die lokale Bevölkerung nach dem sichersten Weg zu fragen.

Auch Kobani ist mittlerweile von einem Gürtel aus kurdischen Kontrollposten umgeben. Jedes Auto, jeder Jeep, jeder Eselskarren wird von schwer bewaffneten Milizionären durchsucht. „Wir versuchen, das Eindringen oder Einsickern von Kräften der Free Syrian Army ebenso zu verhindern wie eine Rückkehr der alten Administration", meint ein maskierter Posten. Stolz präsentiert er seine neue Pumpgun. Er will sie auf einer eroberten Polizeistation gefunden haben. „Wir wollen nicht, dass unsere Stadt demnächst wie Homs aussieht und wir einem Blutbad ausgesetzt sind."

MG-Training inklusive

In der Innenstadt von Kobani ist die martialische Selbstdarstellung kurdischer Regionalmacht auf das Nötigste reduziert. Es ist die Zeit des Ramadan. Frauen aus der arabischen Bevölkerung kaufen Lebensmittel für das traditionelle Fastenbrechen am Abend ein – Studenten und Schüler hasten zur nächsten Unterrichtsstunde oder nach Hause. Normalität statt Bürgerkrieg. In einem Café komme ich mit einer christlichen Araberin ins Gespräch: „Wir ahnen natürlich, dass Kampfhandlungen auch uns mit aller Wucht erreichen können. Vor allem wissen wir nicht, was die Zukunft bringt. Wie geht eine möglicherweise neue Regierung mit der Religionsfreiheit um? Die war unter Präsident Assad garantiert." Als Christin in Kobani würde sie jetzt die kurdischen Nachbarn unterstützen in ihrem Streben nach Autonomie und Selbstbestimmung. Die Gewähr auf ein sicheres Leben biete das jedoch nicht.


Kurdische Protestanten gegen das Assad-Regime in der syrischen Stadt Girke Lege

Viele der kurdischen Aktivisten in Kobani fühlen sich der kurdischen Arbeiterpartei PKK verbunden, weil sie für die Rechte aller Kurden in der nahöstlichen Diaspora kämpft. Die Regierung der Türkei beobachtet diese innerkurdischen Solidarisierung mit dem gleichen Argwohn wie 2003, als nach dem Sturz Saddam Husseins die Kurden im Nordirak nach eigenen Wegen suchten. Wie lange wird Ankara jetzt zusehen, was in Nordsyrien geschieht?
Vorerst jedenfalls versuchen in Kobani Kurden, Christen, Armenier und Turkmenen gemeinsam, der gewonnenen Freiheit viel abzugewinnen. Es gibt ein provisorisches Stadtparlament – und Tev-Dem, eine 2007 gegründete Dachorganisation, die etwa vier Fünftel aller kurdischen Oppositionsgruppen in Syrien vertritt, sorgt für neue zivile Strukturen. In Kobani regieren bis auf Weiteres Ehmed Sêxo und Aysa Afendi als gewählte Bürgermeister die Stadt. Besonders Frau Afendi hat erfahren, was es bedeutet kann, sich gegen das Assad-Regime zu wehren: „2008 wurde ich verhaftet und nach Aleppo gebracht, dort ein Jahr lang gefangen gehalten und häufig gefoltert." Dennoch habe sie nie aufgegeben: „Frauen werden in der arabischen Kultur oft wie Sklaven behandelt. Daher haben sie bei diesem Aufstand viel zu gewinnen, aber dann auch wieder viel zu verlieren. Die Clan-Strukturen zu überwinden, das braucht seine Zeit." Augenblicklich werden von Tev-Dem an vielen Orten im Norden Frauenzentren eingerichtet, in denen man Erste Hilfe ebenso trainiert wie den Gebrauch eines Maschinengewehrs.


YPG-Milizionäre kämpfen für eine Selbstverwaltung wie im Nordirak

„Wir schulen 60 Männer und Frauen zu Polizeikräften", erzählt Kendal, Kommandeur einer neuen kurdischen Ordnungsmacht in Kobani. Sein Polizeigebäude wurde schnell von den Insignien des alten Regimes gereinigt, Akten beschlagnahmt und Archive übernommen. Es gab ein Verhörzentrum im Keller. Wie viele diesen Ort des Grauens durchlaufen mussten, weiß niemand. „Unsere neue Polizei soll keine Waffen tragen, auch keine Uniformen. Ihr Erkennungsmerkmal wird ein Hemd mit einem Polizei-Logo sein. Wir stehen hier mitten in einem sozialen Experiment und hoffen, dass es gelingt", meint Kendal. Die bisherigen Polizeiautos erhalten ein neutrales Weiß. Nur der Schriftzug „Asayis" (Kurdisch für Polizei) wie auch die kurdische Flagge kennzeichnen die Fahrzeuge.

Es wurden nicht alle städtischen Mitarbeiter entlassen, die der Baath-Partei angehören oder nahestehen. Wer bisher für die Wasser- und Elektrizitätsversorgung gearbeitet hat, kann bleiben – auch weil man auf diese Spezialisten angewiesen ist. Außerdem wolle man in Kobani, so Polizeichef Kendal, nicht Fehler wiederholen, wie sie einst im Irak nach dem US-Einmarsch gemacht wurden: Durch den Rauswurf ausnahmslos aller Mitglieder der dortigen Baath-Partei Saddam Husseins noch aus den untersten Chargen der Verwaltung sei ein Pool Hunderttausender unzufriedener Iraker entstanden, die für noch mehr Blutvergießen in diesem Land gesorgt hätten.

Ölquellen und Grenzposten

Unverzüglich haben die neuen Herren Kobanis mit ihren Milizen die Ölquellen im Umfeld der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Nur Rmelan, 28 Kilometer westlich der Stadt Derik gelegen und 1963 wegen einiger Ölvorkommen gegründet, bleibt unerreichbar. Die syrische Armee hat zwei Kampfhubschrauber sowie Panzer nach Rmelan geschickt. Zu wichtig und zu unverzichtbar ist diese Geldquelle, um sie kampflos aufzugeben. Andere wichtige Vorposten hat Bashar al-Assad dennoch verloren, besonders Grenzstationen zwischen syrischen und nordirakischen Kurdengebieten, die inzwischen fest in der Hand kurdischer Peoples Defense Units (YPG) sind. Waffenlieferungen, aber auch militärisch gut trainierte Einheiten nordirakischer Kurden passieren Tag für Tag die Demarkationslinie. Sehr zum Ärger der Free Syrian Army (FSA), die befürchtet, dass so vollendete Tatsachen für einen Kurden-Staat in Nordsyrien geschaffen werden. Statt ihre Positionen zu festigen, sollten die YPG aktiver an den Kämpfen gegen Assad teilnehmen. Allerdings widersprechen derartige Forderungen dem, was die kurdische Bewegung tatsächlich will: Um jeden Preis – notfalls durch Kompromisse mit der Assad-Armee – zivile Opfer vermeiden. So steigen die Spannungen zwischen der Free Syrian Army und den kurdischen YPG langsam, aber zuverlässig. Dass sie sich in Gefechten entladen, scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.


Die Polizei von Kobani hat sich für die Farbe Weiß entschieden

Aldar Xelil, einer der drei Vorsitzenden von Tev-Dem in Kobani, versucht, diese Situation zu erklären: „Wir sind nicht gegen den bewaffneten Aufstand der FSA. Aber wir müssen befürchten, dass sich diese Armee, die sehr stark durch den türkischen Staat beeinflusst wird, am Ende gegen uns wendet." Die Ereignisse während des letzten Treffens der syrischen Opposition Mitte Juli in Kairo bestätigen diese Erwartung. Nach hitzigen Debatten stürmten die kurdischen Delegationen aus dem Raum. Erneut hatte der Syrische Nationalrat (SNC) eine Verankerung der kurdischen Frage in einer künftigen Magna Charta abgelehnt.

Kairo hat die kurdische Bewegung weiter zusammenrücken lassen. Das Gefühl der Verbrüderung, das Gruppen wie die PKK an die Seite von Massoud Barzani bringt, des Präsidenten der kurdischen Autonomieverwaltung im Nordirak, ist aus diesen Umständen erwachsen. Es bestärkt ebenso Tev-Dem wie die YPG-Milizen in allem, was sie in Nordsyrien als strikt unabhängige Konfliktpartei unternehmen.

Sehr schnell kann nun eine Zeit der radikalen Entscheidungen heranreifen. Gefangen zwischen dem arabischen Aufstand und der Türkei einerseits (die nach dem irakischen kein weiteres kurdisches Autonomiegebiet an ihrer Grenze zulassen will) sowie dem Assad-Regime andererseits scheint die Zukunft ungeklärt, wenn nicht düster. Sollte sich die religiöse Radikalisierung der FSA noch beschleunigen und in einer Post-Assad-Ära eine islamistische Regierung an die Macht kommen, werden sich die Kurden damit nicht abfinden und erneut zu den Waffen greifen. Dann könnten die Ölfelder in Nordsyrien ein Faustpfand sein, um sich gegen ein Durchgreifen aus Damaskus zu schützen. Es sind Szenarien wie im Irak denkbar. Bis heute ringen Bagdad und die Kurdenhauptstadt Erbil um die Kontrolle über die Ölstädte Kirkuk und Mosul, ohne dass eine tragfähige Entscheidung auch nur in Sicht wäre.

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Re: Die kurdische Front

von Azadiyakurdistan am 04.08.2012 00:34

Die Türkei wollte auch kein Kurdistan in Nordirak zulassen, doch jetzt haben sie gute Beziehungen zu den Kurden in süd-Kurdistan. Das wird auch in West-Kurdistan (Nordsyrien) so sein, wenn die Kurden dort klug handeln und ihre Nachbarn militärisch nicht angreifen oder ähnliches.

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