Türkische Albträume

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Türkische Albträume

von Azadiyakurdistan am 28.04.2011 18:26

Verirrt in den Fallstricken der syrischen Krise: Es drohen Bürgerkrieg, Flüchtlingsströme sowie der Zerfall des Nachbarlandes. Ankara ist als Mediator gefragt - im eigenen Interesse
Für die Regierung Erdogan steht viel auf dem Spiel, sollte der Nachbarstaat kollabieren. Es geht um Stabilität in der gesamten Region.
Zur Sicherheit unterhält man sich schon mal mit Assads Feinden und bereitet die Grenzregion auf "potenzielle Komplikationen" vor.


Syriens Diktator Baschar al-Assad setzt die Armee gegen Demonstranten ein - und in Ankara schrillen die Alarmglocken: Zwischen Syrien und der Türkei verläuft eine 877 Kilometer lange Grenze. Vor Kurzem hatten beide Länder die Visumpflicht gegenseitig aufgehoben. Die Grenze wieder zu schließen ist schwierig. Wenn die Situation beim Nachbarn eskaliert, droht der Türkei also eine Flüchtlingswelle.

Türkische Medien zitieren Regierungsfunktionäre mit den Worten, man habe umfassende Vorbereitungen getroffen und mehrere Szenarien in Betracht gezogen, darunter "massive Migration" und "andere potenzielle Komplikationen". Bürgermeister grenznaher Orte wurden aufgefordert, Vorbereitungen für die Aufnahme von Flüchtlingen zu treffen. Zonen für Lager und Krankenhäuser für verwundete oder kranke Syrer wurden festgelegt: Die Städte Hatay, Gaziantep, Sanliurfa und Mardin sind als Flüchtlingszentren vorgesehen.

Schon jetzt hat die Türkei vorübergehend Tausende von Flüchtlingen aus der ganzen Region aufgenommen, indem sie vor allem aus Libyen nicht nur ihre eigenen Bürger evakuierte, sondern auch Staatsangehörige anderer Länder. Dazu kommen Hunderte libyscher Verletzter, die mit einem Schiff nach Izmit in der Nähe von Istanbul gebracht wurden. Eine Flüchtlingswelle aus Syrien würde all das in den Schatten stellen. Wahrscheinlich würden viele Syrer bei Verwandten in der südöstlichen Türkei unterkommen, aber viele Tausend müssten von den Behörden versorgt werden.

Es gibt ein zusätzliches Problem: Als Folge des Kurdenkonflikts wurde die Grenze auf der türkischen Seite in den 90er-Jahren vermint. Viele der Minen sind bis heute nicht entfernt. Die Gefahr besteht, dass fliehende Syrer in Minenfelder geraten, falls die Türkei ihre Grenzen für Flüchtlinge schließt oder den Zufluss zu begrenzen versucht. Die Regierung hat Entminungsgerät an die Polizeistationen der Region entsandt. Es gilt jedoch als unwahrscheinlich, dass das Problem auf diese Weise und vor allem rechtzeitig gelöst werden kann.

Die türkische Regierung fürchtet als Folge der syrischen Krise auch gewaltsame Konflikte im von Syrien stark beeinflussten Libanon sowie einen denkbaren Zerfall Syriens, wo die Minderheit der Alawiten (15 Prozent) eine Mehrheit von Sunniten (75 Prozent) regiert, deren Bindungen an irakische Stammesbrüder zum Teil enger sind als die Bindung an den eigenen Staat.

Vor allem aber ist mit "potenziellen Komplikationen" ein denkbares Aufflammen des Kurdenkonflikts gemeint. Der Dauerkonflikt mit der türkischen PKK hat gerade mal wieder einen Siedepunkt erreicht; mit einem mehr oder minder vollkommen autonomen kurdischen Nordirak hat sich die Türkei inzwischen abgefunden, aber ein Zusammenbruch Syriens könnte bedeuten, dass Syriens Kurden ebenfalls Autonomie fordern - und vielleicht sogar erhalten. Das nährt die Hoffnungen der Kurden auf einen vereinten Kurdenstaat. Die meisten Kurden aber leben in der Türkei.

Die syrische Lage ist aus türkischer Sicht also ungleich brisanter als die Aufstände in Tunesien, Ägypten, Jemen oder Libyen. In allen diesen Fällen stand auch die Glaubwürdigkeit der Türkei auf dem Spiel, die sich zwar immer als demokratisches Vorbild für die muslimische Welt versteht, aber in den vergangenen Jahren ihren globalen Einfluss und ihre Wirtschaft dadurch zu fördern trachtete, dass sie mit den schlimmsten Diktatoren eine enge Zusammenarbeit einging: Libyens Gaddafi, Syriens Assad und Irans Ahmadinedschad. Premier Erdogan hatte Assad seinen "Bruder" genannt, die beiden Staatsmänner sind befreundet. Ankara hatte die einstige "strategische Partnerschaft" mit Israel in eine strategische Gegnerschaft verwandelt und dafür die syrische Diktatur in den Rang eines neuen "strategischen Partners" erhoben.

Das war alles schön und gut, bis die Menschen der Region Ankaras Rhetorik von muslimischer Demokratie ernst nahmen. Seither ist alles in Gefahr, was die Türkei an Einfluss und institutioneller Zusammenarbeit im Nahen Osten auf die Beine gestellt hat. Außenminister Ahmet Davutoglu erklärte daher seinen Botschaftern, die Lage biete für die Türkei "große Chancen, aber auch große Risiken". Er nannte auch seine oberste Priorität angesichts der Krise: nicht etwa den Siegeszug der Demokratie, sondern die größtmögliche Ausweitung des "globalen Einflusses der Türkei".

Um sich über die rasch wandelnde Lage in Syrien zu informieren, rief Davutoglu seinen Botschafter in Syrien, Ömer Önhon, zu "Routineberatungen" nach Ankara. Önhon hatte kurz zuvor den eben erst eingesetzten neuen syrischen Premier getroffen, Adel Safar.

Dass es zurzeit kein wichtigeres Thema für die Türkei gibt als Syrien, zeigt ein Blick in den Terminkalender: Am Montag berieten Davutoglu und Erdogan offiziell über die Krise. Sie sind aber sowieso im ständigem Telefonkontakt, "manchmal auch, wenn nötig, um vier Uhr morgens", sagte Davutoglu vor einiger Zeit der "Welt". Ebenfalls am Montag berieten Erdogan und der amerikanische Präsident Barack Obama telefonisch über Syrien. Am Dienstag dominierte das Thema die Kabinettssitzung in Ankara, zudem telefonierte Erdogan mit Assad. Erdogan schickte persönliche Gesandte zum syrischen Diktator. Ihre Mission: die Einleitung zügiger Reformen. Das scheint zu bedeuten, dass Assad türkische Hilfe bei der Regierung seines Landes in Anspruch nehmen will - vielleicht, weil er allein gegen seinen autoritären Apparat machtlos ist. Heute beschäftigt sich der Nationale Sicherheitsrat mit den Konsequenzen eines möglichen Bürgerkrieges im Nachbarland.

Die bei Weitem heikelste Frage für Ankara ist jedoch die Glaubwürdigkeit der türkischen Politik, die Assad und Syrien zu einem Musterbeispiel regionaler Kooperation erhoben hatte. Nun ist der Syrer plötzlich jemand, der das eigene Volk massakriert. Erdogans Haltung hierzu hat sich in den letzten Wochen verschoben wie Treibsand: Zunächst hielt er Assad die Treue, rief ihn aber zu Reformen auf. Vor wenigen Wochen drohte Ankara gar indirekt der syrischen Opposition. Da hatte Assad Reformen angekündigt, insbesondere die Aufhebung des seit den 60er-Jahren geltenden "Ausnahmezustands". Ankara ließ dazu öffentlich wissen, es werde keine Kräfte unterstützen, die sich diesen Reformen in den Weg stellen. Aber genau das passierte. Assad hob die Notstandsgesetze auf, ersetzte sie durch kaum weniger scharfe andere Bestimmungen - und die Proteste gegen seine Regierung hörten nicht auf. Nach dem ersten massiven Armeeeinsatz musste die Türkei erneut ihren Kurs ändern. Nun sagt die Regierung, das Blutvergießen sei nicht hinnehmbar.

Die letzte Linie des türkischen Widerstandes wäre ein Regimewechsel. Die Türkei ist bislang offiziell dagegen. Aber die Zeitung "Sabah" berichtet von einem fünftägigen Besuch von CIA-Chef Leon Panetta in Ankara. Dabei soll es auch um die Frage gegangen sein, wie man den noch vor so kurzer Zeit besten Freund Erdogans im Nahen Osten am besten abservieren könnte. Für die Behauptungen gibt es freilich keine weiteren Quellen.

Allerdings bringt sich die Türkei bereits als neuer Partner von Assads größten Feinden in Position. Die syrische oppositionelle Dachorganisation Nationale Initiative für den Wandel tagte in Istanbul. Es sind die Leute, auf die Assad schießen lässt und die er in Gefängnisse sperrt. Die Oppositionssprecher verkündeten in Istanbul, sie würden "Assads Regime brechen", wenn er nicht die volle Demokratie in Syrien einführe.

Welt.de

Silav û Rêz
Azad

Antworten Zuletzt bearbeitet am 28.04.2011 18:49.

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