Türkische Kurdenpolitik in der Sackgasse

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Türkische Kurdenpolitik in der Sackgasse

von Azadiyakurdistan am 08.10.2010 16:53

Versandete Initiative der Regierung Erdogan – kaum erfüllbare Forderungen der wichtigsten kurdischen Partei

Der Kurden-Konflikt ist trotz einem neuen Anlauf der türkischen Regierung weit von einer politischen Lösung entfernt. Verbesserungen folgen Rückschläge. Viele Forderungen der wichtigsten kurdischen Partei stehen im Widerspruch zur Verfassung.

Der grossgewachsene junge Mann gibt bereitwillig Auskunft. Er ist 17 Jahre alt und noch minderjährig. Er habe in Diyarbakir an einer Kundgebung für den inhaftierten Chef der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, teilgenommen und Steine gegen die Sicherheitskräfte geworfen, als diese die Demonstration auflösten. Er wurde, wie er weiter erzählt, festgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Die Staatsanwaltschaft beantragte unter Berufung auf das Anti-Terror-Gesetz eine Haftstrafe von 17 Jahren. Er verbrachte sechs Monate im Gefängnis. Dann wurde er freigelassen, bevor die Richter ein Urteil fällten. Der junge Mann verlor ein Schuljahr. Er muss die Klasse repetieren. Schlimmer noch: Für viele Kurden mag er zwar nun ein Held sein. Er wird es aber schwer haben im Berufsleben, denn ihm haftet das Stigma eines PKK-Anhängers an.

Neue Prozesse
Sein Schicksal ist kein Einzelfall. In den letzten Jahren sassen mehr als 2600 vor allem kurdische Minderjährige, unter ihnen Zwölfjährige, wegen gleicher oder ähnlicher Vergehen in Gefängnissen. Sie wurden oft wie Erwachsene behandelt und erhielten teilweise hohe Haftstrafen. Im Juli änderte das Parlament in Ankara das Anti-Terror-Gesetz. Fast alle kurdischen Jugendlichen, die oft zusammen mit erwachsenen Straftätern inhaftiert gewesen waren, sind inzwischen freigelassen worden. Das bestätigt Emin Aktar, der Präsident der Anwaltskammer von Diyarbakir. Die im Südosten der Türkei am Oberlauf des Tigris gelegene Millionenmetropole ist das politische Zentrum der Kurden. Alle diese Fälle seien allerdings, so sagt Aktar, an höhere Gerichtsinstanzen weitergeleitet worden und damit nicht abgeschlossen.



Am 18. Oktober beginnt der Prozess gegen 151 kurdische Politiker, unter ihnen 11 gewählte Bürgermeister. Sie alle sind – wie könnte es anders sein – angeklagt, die PKK zu unterstützen oder gar Mitglied in dieser offiziell als terroristisch bezeichneten Organisation zu sein. Zu ihnen gehört auch der in der kurdischen Bevölkerung populäre Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir. Mehr als hundert der angeklagten Politiker befinden sich laut Angaben von Aktar in Haft. Die Anklageschrift umfasse mehr als 7500 Seiten, als Beweise dienten abgehörte Telefongespräche, auch private. Für Aktar gibt es keinen Zweifel. Es handelt sich um einen politische Prozess. In einem Klima der Repression kann das jahrzehntealte Kurdenproblem, so ist er überzeugt, nicht gelöst werden.

Fortschritte und Rückschläge
Die von der Regierung Erdogan im Sommer des vergangenen Jahres lancierte «kurdische Initiative» zur Verbesserung der Lage der grössten Minderheit in der Türkei ist schon vor einiger Zeit versandet. Besonnene kurdische Gesprächspartner räumen durchaus ein, dass die Initiative Verbesserungen gebracht hat. Eine Reihe gesetzlicher Einschränkungen über den Gebrauch des Kurdischen wurde aufgehoben. So gibt es einen staatlichen Fernsehkanal in kurdischer Sprache sowie mehr als ein Dutzend Fernseh- und Radiostationen, die in Kurdisch senden. An der Universität der südostanatolischen Stadt Mardin ist ein Lehrstuhl für «lebendige Sprachen» eingerichtet worden. Dort werden Kurdisch und – wie es offiziell heisst – «andere regionale Sprachen» gelehrt, etwa Aramäisch oder Arabisch. Der Umstand, dass der Begriff «Kurdisch» bei der Bezeichnung des Fachbereichs nicht vorkommt, zeigt einmal mehr die Widersprüchlichkeit der Kurdenpolitik Ankaras.

Berücksichtigt man die Tatsache, dass die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit lange verboten war und den Kurden während Jahrzehnten eine eigene Identität abgesprochen wurde und teilweise noch heute abgesprochen wird, so sind die Veränderungen bemerkenswert. Misst man die Fortschritte hingegen am Anspruch der Türkei, eine Demokratie europäischen Zuschnitts zu sein, so sieht die Bilanz nicht besonders gut aus. Für die meisten Kurden sind die Änderungen höchstens ein Anfang, für die kemalistische Opposition hingegen gehen sie schon zu weit. Verbesserungen folgten zudem jeweils wieder Rückschläge. Die kurdischen Politiker verlangen denn auch weitgehendere Minderheitenrechte, von denen einige im Widerspruch zur Verfassung stehen und an kemalistischen Grundpfeilern rütteln, etwa am Prinzip des unitaristischen Einheitsstaates oder des homogenen türkischen Staatsvolkes.

Schreckgespenst Autonomie
In Diyarbakir regiert die kurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP). Die Gegner sehen in ihr den politischen Arm der Rebellenorganisation PKK. Zu den wichtigsten Forderungen der BDP gehören das Recht auf den Gebrauch der Muttersprache im Schulunterricht, eine Revision des Verfassungsparagrafen über die Staatsbürgerschaft, gemäss dem alle türkischen Bürger Türken sind (also auch die Kurden), sowie die Schaffung einer «demokratischen Autonomie». Was das bedeutet, bleibt allerdings unklar, verschwommen und widersprüchlich. So sprich der Chef der BDP in Diyarbakir, Necan Yaruk, einerseits von «Selbstverwaltung ohne Druck der Zentralregierung», zugleich aber auch von Autonomie für einzelne Regionen. Es geht offensichtlich um mehr als um eine Dezentralisierung und Stärkung der regionalen Verwaltung. Was der Partei vorschwebt, ist die Schaffung regionaler Parlamente mit Fahnen und Symbolen, mit andern Worten: Autonomie der kurdischen Siedlungsgebiete im Südosten Anatoliens.

Galip Ensarioglu ist Präsident der Handels- und Industriekammer von Diyarbakir. Er hat sich öffentlich gegen den von der BDP verfügten Boykott des Verfassungsreferendums von Mitte September ausgesprochen. Auch Ensarioglu befürwortet eine Stärkung der lokalen Administration. Eine Autonomie sei aber derzeit nicht realistisch. Das komme zu früh und erschwere die Lösung anderer Fragen. Man solle mit Dingen beginnen, die für die Türken akzeptabler seien.

Und das ist schon schwierig genug. Noch immer glauben nämlich viele Türken, allein schon die Gewährung weiterer kultureller Rechte für die Kurden bedeute eine territoriale Zerstückelung. Eine solche Haltung ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die kemalistischen Schulbücher die Kurden nur zwei Mal erwähnen. Und an beiden Stellen werden sie als Gefahr für den Bestand der 1923 von Mustafa Kemal Atatürk proklamierten Republik hingestellt. Wenn die Regierungspartei es wirklich ernst meint, dann braucht es eine grundlegende Änderung der Haltung der Gesellschaft den Kurden gegenüber. Das aber ist ein langer Prozess, der Zeit braucht.

Die Idee einer kurdischen Autonomie, in welcher Form auch immer, oder die Vorstellung, dass die kurdische Fahne neben der türkischen vor einem regionalen Verwaltungsgebäude wehen könnte, löst bei fast allen Türken blankes Entsetzen aus. Solche Postulate sind politisch nicht durchsetzbar, ganz zu schweigen davon, dass mehr als die Hälfte der Kurden nicht in Südostanatolien lebt, sondern in den Grossstädten im Westen des Landes. Sie hätten gar nichts von einer territorialen Autonomie. Schon Schulunterricht in der Muttersprache, ein Grundrecht, ist für die Regierung in Ankara inakzeptabel. Die einzige offizielle Landessprache sei Türkisch, erklärte kürzlich Erdogan. Und daran werde sich nichts ändern.

An der Wand hinter dem Schreibtisch von Mehmet Baki Aksoy, dem Chef der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in Diyarbakir, hängt ein riesiges Porträt von Ministerpräsident Erdogan und ein sehr kleines vom Staatsgründer Atatürk. In den Gängen warten, ebenso wie im Gebäude der kurdischen BDP, Bittsteller geduldig auf Einlass, um ihre Anliegen vorzubringen. Sie haben ganz andere Sorgen als Sprache und Autonomie. Es geht um Armut und Arbeitslosigkeit. In ihren Nöten erwarten sie Hilfe von jenen, denen sie ihre Stimme gegeben haben.

Bedrängte Muttersprache
Aksoy gibt sich in der Sprachenfrage pragmatisch, schliesslich ist seine Partei auf Stimmen von Kurden angewiesen, will sie die BDP in Diyarbakir von der Macht verdrängen. Auch wenn dies ein Verstoss gegen das Gesetz sei, so sollen den Lehrern doch, so meint er, alle Möglichkeiten offenstehen, ihren Stoff zu vermitteln, im Notfall eben auch in kurdischer Sprache. Heute ist muttersprachlicher Unterricht nur ausserhalb der staatlichen Schulen erlaubt. Allerdings wird davon, wie ein Lehrer meint, wenig Gebrauch gemacht.

Kurse in Kurdisch bietet die Vereinigung für die Untersuchung und Entwicklung der kurdischen Sprache an. Noch vor einem Jahrzehnt wäre es völlig undenkbar gewesen, dass eine solche Institution legal arbeiten kann. Ihr Präsident, Remzi Azizoglu, bestätigt den Befund des Lehrers. Die Kurse seines Instituts, er beharrt auf der Bezeichnung «Workshops», werden lediglich von 45 Personen besucht. Es seien vor allem erwachsene Kurden, die ihre Sprachkenntnisse verbessern wollten.

Das ist offenbar auch nötig. In Diyarbakir und in andern Städten Südostanatoliens dominiert, anders als in den ländlichen Gebieten, das Türkische. Das überrascht nicht, denn Türkisch ist seit 1923 die alleinige Unterrichts- und Amtssprache. Die jahrzehntelange repressive staatliche Sprachpolitik hat tiefe Spuren hinterlassen. Allerdings verstehen sich auch jene, die kaum mehr Kurdisch sprechen, noch immer als Kurden. Der Schulunterricht in der Muttersprache wäre, wie ein Lehrer in Diyarbakir betont, ein wichtiger Schutzwall gegen die fortschreitende Assimilierung. Umgekehrt gibt es aber auch viele kurdische Kinder, vor allem auf dem Lande, die gar nicht oder kaum Türkisch sprechen und dadurch in der Schule, falls sie überhaupt eine solche besuchen, benachteiligt sind.

Fehlendes Geld
Zu jenen, die ihre Kenntnisse in Kurdisch verbessern wollen, gehört auch Azizoglu selber, wie er freimütig einräumt. Er könne zwar, wie viele andere auch, Kurdisch reden, aber bei der Grammatik, da hapere es bedenklich. So besucht er in seinem eigenen Institut einen Kurs zur Verbesserung der grammatikalischen Kenntnisse, und zwar jenen für Anfänger. Da ist er in guter Gesellschaft. Selbst Führungsmitglieder der BDP haben Mühe mit ihrer Muttersprache und bedienen sich bei politischen Veranstaltungen meistens des Türkischen, auch wenn sie das Recht hätten, Kurdisch zu sprechen. Sogar die Sprache der PKK ist türkisch.

Selbst wenn die Forderung der Kurden nach Schulunterricht in der Muttersprache erfüllt würde, so wäre die Umsetzung alles andere als einfach. Es fehlen grundlegende Voraussetzungen dafür. Vor allem scheint es kaum ausgebildete Lehrkräfte zu geben, auch wenn die Politiker der BDP und Azizoglu betonen, das sei überhaupt kein Problem. Zudem sind die türkischen Kurden keine homogene Volksgruppe. Es werden zwei Idiome gesprochen, die sich stark voneinander unterscheiden und deren Sprecher sich gegenseitig kaum verstehen. Manche sind denn auch der Meinung, es handle sich um zwei verschiedene Sprachen. Nach den Worten Azizoglus wird daran gearbeitet, eine von allen türkischen Kurden akzeptierte Schriftsprache zu schaffen. Doch das sei eine schwierige Aufgabe, vor allem deshalb, weil die finanziellen Mittel fehlten.

Quelle...

Silav û Rêz
Azad

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