Verfasste Einheit ohne Recht und Freiheit?

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Verfasste Einheit ohne Recht und Freiheit?

von Azadiyakurdistan am 20.08.2010 19:53

Der türkische Premierminister R.T. Erdogan hatte bei einem Aufenthalt in der kurdischen Metropole Diyarbakir davon gesprochen, dass die Türkei ihre Vergangenheit [kritisch] unter die Lupe nehmen, im Blick behalten müsse. Wann immer aber die Rede ist von muttersprachlichem Schulunterricht oder von Gleichberechtigung für die kurdische Minderheit in der Türkei, wird auch bei Erdogan sofort ein türkisch-nationalistischer Reflex ausgelöst: All das gefährde aber die nationale Einheit der Türkei.

Wenn Erdogan und seine amtierende Regierunspartei AKP der seit Jahrzehnten ungelösten Kurdenfrage endlich ein Ende bereiten wollen, dann sollten sie damit doch bitte beginnen beim Mythos des "nationalistischen Einheitsstaates". Genau dieser Mythos ist es auch, auf den sich die Republik Türkei eben als "türkische" Republik gegründet hatte. Nicht nur die kurdische Minderheit ist davon betroffen. Die türkische Republik wurde als "rein türkischer" und "rein sunnitischer" Staat ausgerufen.

Die Machthaber der Türkei hofften, dass die ethnischen und religiösen Minderheiten mit der Zeit sich in dieses türkisch-nationalistische Staatsvolk assimilieren und damit ihre eigenständige Existenz aufgeben würden. Zugleich wurde offiziell und gerade auch in der Außendarstellung der Republik die Weiterexistenz jener Gruppen geleugnet und noch immer werden sie offiziell nicht in ihrer eigenen Identität anerkannt. Das war ja auch der Zeitgeist jener Epoche, was zum seltsamen Konflikt zwischen den faschistischen Staaten Deutschland (bzw. zuvor Österreich) und Italien über die ethnische Zuordnung der Südtiroler und ihrer Sprache führte.

Diese offizielle Staatsideologie führte in der Türkei nicht nur zu für uns heutige Menschen unvorstellbaren Schikanen (wie dem Verbot der kurdischen Sprache) und überzogener Staatsgewalt, sondern brachte die Türkei an den Rand eines Bürgerkrieges. So musste die "ketzerische" Religionsgemeinschaft der Aleviten zahlreiche Massaker erleiden, welche – wie sich später rausstellen sollte – von langer Hand geplant waren. Noch heute heißt es, dass von Aleviten (oder kurdischen Eziden) hergestellter Käse bzw. geschlachtetes Fleisch nicht gegessen werden sollte (Sünde) oder dass man einem Aleviten keine Braut zuführt. Zugleich wird die Existenz des Alevitentums als dem sunnitischen Islam nicht untergeordnete Religionsgemeinschaft noch vielfach geleugnet. Der Präsident des Amtes für religiöse Angelegenheiten der Türkei, Ali Bardakoglu äußerte zum Beispiel, dass die Gebetshäuser der Aleviten (Cemevi) keine Gotteshäuser seien. Eine der Folgen dieser Haltung zeigte sich in diesen Tagen wieder in der Ermordung eines alevitischen Soldaten der türkischen Armee, weil er nicht dem für Sunniten geltenden Fastengebot während des Ramadan nachgekommen wäre.

Auch wenn der Großteil der türkischen Gesellschaft die Prinzipien ihrer Gründerväter als unantastbar betrachteten, sind es leider gerade jene Prinzipien, die nicht dem Wunschbild nach einer Türkei als demokratischer Rechtsstaat entsprechen und letztendlich immer noch zu Konflikten, Massakern und Kriegen führen. Es ist offensichtlich, dass den türkischen Gründervätern alles andere als eine "Einheit" gelungen ist. Während die Aleviten sich vor der Scharia und dem Kopftuch fürchten, fürchten viele Muslime die "ketzerischen Aleviten". Der "Staatsfeind Nummer 1" bleiben aber die Kurden, die schlichtweg nicht ihre Muttersprache und Kultur "vergessen" wollen und mit ihren Forderungen angeblich die "nationale Einheit" der Türkei gefährden. Fragt sich nur: Welche Einheit?

Einer neuen "Einheit in der Vielfalt" müsste aber vor allem Artikel 4 der bestehenden Putschgeneralsverfassung geopfert werden, damit Artikel 3 im rechtsstaatlichen Verfahren geändert werden könnte. Denn dieser bislang unabänderliche Artikel regelt u.a. die offizielle Sprache des Staates, ohne eine solche Änderung ist aber staatsrechtlich kein muttersprachlicher Unterricht möglich. Alle weiteren Schritte sind dann klein im Vergleich zu diesem. Aber ohne den großen Schritt kommen die kleineren nicht zustande, bzw. können verfassungsgemäß nicht umgesetzt werden.

Erdogan verspricht inzwischen weitergehende Verfassungsänderungen, wenn er denn bei den Parlamentswahlen übers Jahr im Amte bestätigt würde. Gibt es eine Möglichkeit für kurdische WählerInnen, ihn dann beim Wort zu nehmen, oder schiebt er dann wieder den Artikel 4 der gegenwärtigen Verfassung vor und kann sich an sein "Geschwätz von gestern" nicht mehr erinnern? Dann ist seine vielbeschworene Einheit so wie die der Salzgurken, die ins Konvervenglas gezwängt werden. Dann heißt es "Deckel drauf" und fertig ist die Gurkeneinheit.

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