Von der Schulbank in die Zelle
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Von der Schulbank in die Zelle
von Azadiyakurdistan am 06.09.2010 22:384000 Kinder und Jugendliche - meist Kurden - sind seit 2006 in der Türkei in Gefängnisse gesteckt worden . Mit der jüngsten Welle von Freilassungen nach einer Gesetzesänderung wurde die Öffentlichkeit getäuscht, sagen Bürgerrechtler.
Sein Heft mit den Gedichten zieht er aus einem Bettkasten unter der Couch hervor. Man denkt: So muss man das wohl machen, wenn die Polizei jeden Augenblick wieder in die Wohnung stürmen kann. Selim Tekel liest vor: "O wertvolle Freiheit, / Ich weiß, du bist bei mir, / Ich kann dich in meinen Adern fühlen / Ich gehe zu Bett mit dir und wache auf mit dir."
Ein ganzes Schuljahr hat die Justiz dem jungen Kurden geraubt, vom Dezember 2009 bis zum August dieses Jahres. Dann kam er frei wie 150 bis 160 andere, weil das türkische Parlament kurz vor der Sommerpause und dem Referendum über die Verfassungsänderung die Gefängnisstrafen für Minderjährige neu regelte. Was die Europäische Konvention für Menschenrechte nicht zulässt, machte das Anti-Terrorgesetz TMK der Türkei möglich: Festnahme von Kindern und Jugendlichen bei Demonstrationen und ihre Verurteilung wegen "Unterstützung terroristischer Aktivitäten", also der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Auf dem Heimweg angeschossen
Selim Tekel war bei einer solchen Demonstrationen in Diyarbakir, der Hautstadt der Kurden im Südosten der Türkei. Das heißt, eigentlich sei er nur auf dem Weg zu seinem Onkel an der gewalttätigen Menge vorbeigekommen, damals am 29. November 2009, so erzählt er. An die 20 Jugendliche griffen den Sitz der Regierungspartei AKP an und schleuderten Steine und Molotowcocktails. Ein Sicherheitsmann der Partei feuerte und traf Selim am rechten Oberschenkel. Es war ein glatter Durchschuss, ein Nervenstrang wurde wohl durchtrennt. Selim hinkt jetzt.
"Ich lag auf dem Boden, Polizisten kamen sofort und setzten mir ein Gewehr an den Kopf. Ich soll meinen Namen sagen, brüllten sie." Acht Kinder und Jugendliche wurden an dem Tag verhaftet, vier blieben im Gefängnis, darunter Selim, ein schmächtiger, klein gewachsener Bub, mangelhaft ernährt. Vor ein paar Tagen wurde er 18. Man sieht es ihm nicht an. Wäre er nicht niedergeschossen worden, so lässt sich mutmaßen, hätte die Justiz keinen Fall gehabt, den sie irgendwie bearbeiten musste. Dann wäre Selim vielleicht einfach weitergegangen.
Ein Polizeikommando drang gleich nach den Krawallen vor dem AKP-Gebäude in die Wohnung der Tekels im Stadtteil Baglar ein. Alles hätten sie auf den Kopf gestellt, die Wohnung gefilmt, den Vater gleich zum Verhör mitgenommen, erzählt die Mutter. Dass die Polizisten nichts über Selims Verletzung sagten, verzeiht sie ihnen bis heute nicht.
Ein Besuch pro Woche
Jugendliche wie Selim findet man leicht in Diyarbakir. Oder deren Eltern und Verwandte, die von den Gefängnisbesuchen berichten. Einmal in der Woche, der Sohn hinter der Scheibe. Arif Akaya zum Beispiel, Vater eines damals 15-jährigen Häftlings, durfte seinen Sohn nicht mehr sehen, weil er einmal am Ende eines Besuchs auf das "Victory"-Zeichen der Kinder auch mit zwei gespreizten Fingern geantwortet hatte. Jetzt kümmert er sich mit einem Verein um die Jugendlichen, viele sind psychisch und körperlich geschädigt. Sein Sohn sei schon zweimal umgekippt, seit er nun zu Hause ist, erzählt etwa Salattin Gülcü. Morgens nach dem Badezimmer passiert das. Der Doktor sagt, es liege an der gebrochenen Nase, der Junge bekomme zu wenig Luft.
Wie eine zermantschte Wassermelone hätte Ferids Nase im Gefängnis ausgesehen, behauptet der Vater. Zehnmal habe Ferid dort das Bewusstsein verloren. Der heute 17-Jährige war zu sieben Jahren und acht Monaten Haft verurteilt worden. Dann gibt es noch Hakkan, der mit 16 ins Gefängnis kam, schon drei Selbstmordversuche hinter sich hat und immer noch sitzt. "Seine Augen sind leer, wir erkennen ihn nicht wieder", sagt seine Schwester. Oder Umut Kardes, den die Polizei mitnahm, als er 15 war. Er hat Bronchitis, sagt seine Tante, die ihn aufgezogen hatte. Vor zwei Monaten sah sie ihn das letzte Mal.
Bisher keine Gerichtsverhandlung
Selim erzählt, das Bein habe man ihm am ersten Tag der Haft bandagiert, dann war die ärztliche Versorgung beendet. "Ich habe viel Blut verloren. Ich bin im Bett gelegen, ich habe gelesen. Was hätte ich sonst tun sollen?" Freunde halfen ihm zur Toilette und zum Waschbecken. Dann fing er an mit dem Gedichteschreiben. Ein halbes Jahr blieb der junge Kurde im Gefängnis in Diyarbakir, zwei Monate in Musch, fünf Autostunden entfernt, dann einen Monat in Bitlis, ebenfalls weiter im Osten. Eine Gerichtsverhandlung gab es während der ganzen Zeit nicht. Schulunterricht auch nicht. Jetzt, nach der Gesetzesänderung, kommt sein Fall wie der aller anderen Minderjährigen, erstmals vor ein Jugendgericht.
Die Gesetzesänderungen vom vergangenen Juli seien eine Augenauswischerei, sagt die Rechtswanwältin Keziban Yilmaz vom türkischen Menschenrechtsverein IHD in Diyarbakir. Kinder und Jugendliche könnten zwar nun nicht mehr wegen angeblicher Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation angeklagt werden. Dafür wurden Tatbestände in drei Artikeln umformuliert. Die Teilnahme an einer Kundgebung mit einer Waffe ist nun strafbar, wobei etwa ein Stein als Waffe gilt. Sechs Monate bis fünf Jahre Haft seien für einen Steinwurf möglich, zwischen fünf und 15 Jahren für das Ausrollen einer kurdischen Fahne. "Die Richter haben es mit einem chaotischen und vage gehaltenen Gesetz zu tun", sagt Yilmaz, "und der Druck der Öffentlichkeit, rasch die jungen Häftlinge freizulassen, ist jetzt wieder weg".
So kommt es, dass auch nach der gesetzlichen Neuregelung noch an die 130 Minderjährige in Haft sind. Nach Angaben der Anwältin wurden in der Türkei nach der Ausweitung der Anti-Terrorgesetze auf Minderjährige im Jahr 2006 innerhalb von vier Jahren mindestens 4000 Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 18 Jahren in Gefängnisse gesteckt.
(Markus Bernath aus Diyarkabir/Langfassung des in DER STANDARD)
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