"Wir wollen keinen kurdischen Nationalstaat"
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"Wir wollen keinen kurdischen Nationalstaat"
von Kudo21 am 22.06.2013 18:23
PKK-Chef Murat Karayilan über Versöhnung mit der Türkei, die Zukunft Abdullah Öcalans und die Proteste gegen Erdoğan.
Murat Karayilan: Ein historischer Prozess hat begonnen. Wir wollen die kurdische Frage lösen und der Türkei Frieden bringen. Und wir möchten im kurdischen Teil des Iran einen Friedensprozess starten. Alles hat mit einem Brief unseres Vorsitzenden Abdullah Öcalan begonnen, die türkische Regierung hat darauf reagiert. Die erste Etappe dieses Prozesses ist ein Waffenstillstand und unser Abzug aus der Türkei. Sie ist fast abgeschlossen. Bis jetzt gab es dabei keine Kämpfe. Nun beginnt die zweite Etappe - und die betrifft vor allem den türkischen Staat.
Beim Rückzug gab es aber Probleme: etwa eine Schießerei zwischen der PKK und der türkischen Armee in der Provinz Şirnak.
Dabei ging es um die militärische Aufstellung im Grenzraum. Die türkische Armee hat versucht, in Positionen einzurücken, die für unsere Guerilla vorgesehen waren. Die Guerilla hat das nicht zugelassen. Aber das war kein Hindernis für den Abzug.
Fürchten Sie, dass die Protestwelle in Istanbul und anderen türkischen Städten den Friedensprozess beeinträchtigen könnte?
Was derzeit in Ankara, Istanbul und anderen Städten passiert, zeigt den Wunsch nach Demokratisierung in der Türkei. Ich glaube nicht, dass das negativen Einfluss auf den Friedensprozess haben wird. Ich denke, man sollte dieses Streben nach Demokratisierung mit dem Wunsch der Kurden nach Frieden zusammenspannen. Natürlich gibt es unter den Demonstranten auch Nationalisten und Rassisten. Und wenn man keine Initiative dagegen ergreift, könnte diese Bewegung in die falsche Richtung kippen.
Sie haben das Friedensabkommen mit dem türkischen Premier Erdoğan geschlossen und er hat bei der Opposition dafür auch Kritik geerntet. Wenn wegen der Proteste Erdoğans Einfluss verlieren und Oppositionsparteien wie die CHP und die nationalistische MHP an Macht gewinnen sollten: Könnte das den Friedensprozess stoppen?
Das Problem ist, dass Erdoğans Regierungspartei AKP sich selbst zu ernst nimmt. Die Bevölkerung und deren Wünsche werden von der AKP aber nicht ernst genommen. Diesen Fehler könnten CHP und MHP nutzen. In der Türkei gibt es auch geheime Mächte - den „tiefen Staat". Diese Gruppen bereiten uns Sorgen. Sollten sie nun ihre Finger mit im Spiel haben, könnte der Friedensprozess negativ beeinflusst wird. Deshalb ist wichtig, dass die AKP ihre Einstellung von Grund auf ändert: Denn die Demokratisierung der Türkei ist mit der Lösung der Kurdenfrage untrennbar verbunden.In den USA und der EU steht Ihre Organisation nach wie vor auf der Terrorliste.
Das ist inakzeptabel: Wir sprechen von einer Bewegung, die unter den Kurden Millionen Sympathisanten hat. Was kann die EU nun tun, um unseren Friedensprozess mit der Türkei zu unterstützen?
Sie sollte uns von der Terrorliste nehmen. Wenn sie das nicht tut, bedeutet das, dass Europa nicht an einem Friedensprozess interessiert ist.
Viele türkische Familien haben Angehörige durch die PKK verloren. Und die türkische Armee hat viele Kurden getötet. Wie kann es da Versöhnung geben?
Nachdem der türkische Staat seine Politik der Leugnung und Auslöschung gegenüber dem kurdischen Volk beendet hat und über die türkische Verfassung eine demokratische Entwicklung begonnen hat, können wir eine neue Phase starten: die Versöhnungsphase. Dann wird ein unabhängiges Versöhnungs- und Gerechtigkeitskomitee eingerichtet. Dieses Komitee muss untersuchen, was im Krieg geschehen ist, wer was getan hat und was davon die Regeln des Krieges verletzt hat. Der türkische Staat hat viele Morde verübt. Zugleich sind auch verschiedene Dinge durch unsere Seite geschehen. Wir wollen, dass beide Seiten akzeptieren, was sie getan haben und dass sie einander vergeben. Das ist der einzige Weg, wie beide Gesellschaften einander näher kommen können. Denn wenn man all die Fehler des Krieges verbirgt, kann man darauf keinen Frieden aufbauen. Der ganze Prozess endet mit Freiheit aller, inklusive der unseres Vorsitzenden Abdullah Öcalan.
Das heißt, Sie fordern, dass Abdullah Öcalan in nächster Zeit freigelassen wird.
Was meinen Sie mit in nächster Zeit?
Frage: Gibt es aus Ihrer Sicht einen einzuhaltenden Zeitrahmen für die Freilassung Öcalans?
Das hängt davon ab, wie der Versöhnungsprozess voranschreitet. Für jetzt ist wichtig, dass seine Haftbedingungen verbessert werden: damit er aktiv seine Rolle spielen kann und bessere Möglichkeiten für den Kontakt mit unserer Bewegung hat. Wenn die dritte Phase des Friedensprozesses abgeschlossen ist, wird jeder frei sein, auch Abdullah Öcalan.
Wird am Ende dieser Entwicklung so etwas wie ein kurdischer Staat stehen?
Es wird Frieden, Demokratie und Sieg für die Kurden geben - aber keinen Nationalstaat. Der steht nicht auf unserer Agenda. Jeder Kurde denkt an Unabhängigkeit, Freiheit und einen Nationalstaat. Wir sagen: Ja zur Freiheit aber Nein zum Nationalstaat. Der Staat ist die Quelle der Gewalt und löst die Probleme der Menschen nicht. Wir wollen das im Mittleren Osten ändern. Wir wollen einen „Demokratischen Konföderalismus": Menschen aller Nationen und Religionen können daran teilhaben und leben wie Brüder und Schwestern zusammen.
Wie soll das in der Praxis funktionieren?
Es funktioniert, wenn jede Gesellschaft ihr eigenes demokratisches System mit eigenen Vertretungen schafft. Den Staat braucht man dann nicht mehr. Wir sind gerade dabei, dieses System des „Demokratischen Konföderalismus" umzusetzen. (Anm.: PKK-Ideologie der Selbstverwaltung durch Strukturen auf kommunaler Basis).
Hat die türkische Regierung auch wegen der Lage in Syrien den Dialog mit der PKK gestartet?
Das ist vielleicht ein Faktor aber nicht der Hauptgrund. Der Hauptgrund sind die revolutionären Operationen, die wir im türkischen Kurdistan gestartet haben - gemeinsam mit dem permanenten Widerstand der kurdischen Bevölkerung.
Aber in Syrien haben die Kurdengebiete mittlerweile so etwas wie eine defacto Autonomie. Das hat doch die türkische Regierung nervös gemacht die kurdische Position gestärkt.
Ja, die Menschen im syrischen Kurdistan haben einen autonomen Status erreicht. Die Türkei hat sehr oft im syrischen Kurdistan interveniert. Zuerst wollten sie die Einigkeit der Kurden brechen und sie dazu treiben, gegeneinander zu kämpfen. Dann behaupteten sie, die PYD, die größte Partei im syrischen Kurdistan, arbeite mit Syriens Präsidenten Assad zusammen. Und das, obwohl viele PYD-Kader in den Gefängnissen des Assad-Regimes saßen. Der türkische Staat hat viele Konzepte entwickelt, um ein Vorankommen der Kurden in Syrien zu verhindern. Sie haben viele Gruppen bewaffnet und für sie Camps im türkischen Grenzgebiet errichtet, damit sie die PYD angreifen. Es gibt in Syrien Gruppen, die von den Amerikanern abgelehnt werden, wie etwa die al-Nusra-Front, ein Flügel der al-Qaida. Trotz der strategischen Allianz zwischen der Türkei und Amerika hat die Türkei diese Gruppe unterstützt und bewaffnet, damit sie gegen die PYD und die Kurden kämpft. Doch das hat alles nicht funktioniert: die Kurden in Syrien sind zu einem Machtfaktor geworden.
Wie sieht das Verhältnis der PKK zur PYD aus? Es heißt, die PYD sei der syrische Flügel der PKK.
Es gibt keinen Flügel der PKK in Syrien. Es gibt eine große Zahl kurdischer Parteien in Syrien. Wir haben zu vielen von ihnen Beziehungen, inklusive der PYD. Es gibt aber einen Unterschied: die PYD akzeptiert die Ideologie und Philosophie unseres Vorstizenden Abdullah Öcalan. Dadurch stehen wir natürlich der PYD ideologisch näher als anderen kurdischen Parteien in Syrien. Wir unterhalten aber zu allen gleichwertige politische Beziehungen. Viele Journalisten stellen diese Frage. Ich beantworte das immer so: Abdullah Öcalan ist ein Anführer, der mehr als 300 Bücher geschrieben hat. Es ist normal, dass verschiedene Parteien oder Personen diese Ideologie für ihre Erleuchtung übernehmen. Das heißt aber nicht, dass unsere Organisation für diese Gruppen verantwortlich ist.Quelle