Der tapfere Schneider
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Der tapfere Schneider
von Azadiyakurdistan am 26.06.2011 16:43Immer diese Kopfschmerzen. Pochen, stechen, jeden Tag wieder. Kasim* wird diese verdammten Schmerzen einfach nicht los. Er reibt mit der linken Hand über die Stirn, als wolle er sie einfach wegwischen. Aber es geht nicht, Kasim weiß das, er hat es ja schon so oft versucht. Die Kopfschmerzen gehören zu ihm. Wie Narben.
Kasim stammt aus Syrien, dem Land, in dem der Herrscher Baschar al-Assad seit Monaten mit Scharfschützen und Kampfhubschraubern Krieg gegen sein eigenes Volk führt. Mehr als 1300 Zivilisten wurden laut Menschrechtsorganisationen bei den Protesten gegen das autoritäre Regime bislang getötet, 10 000 weitere verletzt oder verhaftet. Kasim ist Kurde, er ist in einem kleinen Dorf im Nordosten des Landes an der Grenze zur Türkei aufgewachsen. Die Brutalität des Militärregimes hat seine Familie schon oft am eigenen Leib erfahren. Kasim selbst auch, vor etwas mehr als fünf Jahren, als die Welt noch nicht nach Syrien blickte, obwohl die Situation der Menschen kaum besser war als jetzt. Kasim wurde gefoltert, drei Monate lang, einfach so. Man sieht ihm das nicht an. Sein Gesicht ist jungenhaft und gütig, die Haut geschmeidig, er hat dünne zarte Finger, lächelt freundlich. Nur seine Augen tragen eine Last.
Der 28-Jährige lebt jetzt in Berlin, fast 3000 Kilometer entfernt von seiner Heimat, aber seine Gedanken sind ständig in Syrien. Gerade in diesen Tagen. Er holt sich die Heimat via Facebook in sein Leben. Er sei da "eigentlich ständig" unterwegs, sagt er, weil er wissen wolle, wie es den Menschen in seiner Heimat ginge. "Sie haben keine Arbeit mehr, sitzen zuhause und haben Angst." Was er da sehe sei noch schlimmer als das, was damals in seinem Land passierte, damals 2006, als sie ihn folterten. Aber immerhin: "Die Welt hat vorher nie geglaubt wie unvorstellbar die Situation in Syrien ist. Jetzt sieht sie es endlich."
Der Mann mit den unsichtbaren Narben sitzt in einem Büro des Behandlungszentrums für Folteropfer in Moabit. Weiße Sessel, weiße Wände, taubenblauer Teppich, es wirkt nicht ungemütlich, nur ein wenig steril. Aber was sollten auch Farben und Motive an den Wänden? Die Menschen, die hier Hilfe suchen, wurden verprügelt, vergewaltigt. Sie kommen wegen der Gespräche, nicht wegen der Büroästhetik. Kasim hat oft in diesem weißen Raum gesessen und einer Therapeutin seine Geschichte erzählt. Die Geschichte seiner Kopfschmerzen.
Sie beginnt an einem Sonntag. Es ist der 12. März 2006, der "Tag der Märtyrer". So nennen ihn die kurdischen Syrer. Der Schneider Kasim fährt morgens von seinem kleinen Dorf in die nahe gelegene Stadt Qamishli. Etwa 10 000 Menschen haben sich dort versammelt. Sie wollen der Opfer des "Massakers von Qamishli" gedenken, bei dem 2004 neun Kurden getötet, Dutzende verletzt und Hunderte verhaftet worden waren. Nach einem Fußballspiel war es zwischen Fans der kurdischen Heimmannschaft und den arabischen Anhängern des Gegners aus Dair az-Zaur zu Unruhen gekommen. Kasim erzählt, dass die arabischen Fans gerufen hätten: "Saddam ist der Beste, weil er euch Kurden abgeschlachtet hat". Tumult, Kämpfe, plötzlich Schüsse. Die syrischen Sicherheitskräfte hätten einfach in die Menge gefeuert, sagt Kasim. "Die Araber hatten Waffen, die Kurden nur ihre Fäuste." Er ballt seine rechte Hand bis sie weiß ist. Er hasst diese Ungerechtigkeit. Deswegen sei er auch da gewesen, bei der Trauerfeier zwei Jahre nach dem Unglück. Deswegen habe er auch nicht gezögert, als ihn jemand bat, eine Liste mit den Namen der Opfer vorzutragen.
Die wenigen Minuten am Mikrofon wurden ihm zum Verhängnis.
Kasim ist auf dem Weg nach Hause, als ein Wagen neben ihm hält. Zwei Männer stürmen heraus, drehen ihm seine Arme auf den Rücken, stopfen ihn auf die Rückbank wie ein Huhn in den Käfig. Legen ihm Handschellen an. "Sie haben nicht ein Wort gesprochen", sagt Kasim. Nur geschlagen. Ein paar Minuten später sitzt er in einem Büro, einem Offizier gegenüber. Wieder Schläge. "Irgendwann habe ich einfach gesagt, dass ich etwas Unrechtes getan habe. Ich wollte nur, dass es aufhört." Es fing erst an.
Als Kurde ist Kasim in Syrien offiziell Teil einer geduldeten ethnischen Minderheit. Tatsächlich aber bedeutet sein Status: Er ist Teil einer Volksgruppe, deren Mitglieder immer wieder schikaniert, verfolgt oder gefoltert werden. Weil sie sich politisch engagieren oder für Freiheit demonstrieren. Oder weil sie eben einfach Kurden sind, das reicht manchmal schon.
Zehn Tage nach seiner Festnahme steht Kasim in einem turnhallengroßen dunklen Raum. Er trägt nur eine Unterhose und eine Nummer um den Hals. Er sieht nicht viel, nur die Männer, die direkt neben ihm stehen, auch nackt, auch mit Nummern. Er erkennt ein paar Kammern, sie sind mit Tüchern verhangen. Er hört Schreie. Spitze, stumpfe, laute, wimmernde. Kasim wiederholt das Wort "Schreie" viermal, fünfmal, wenn er davon erzählt, so wie sich die Schreie in seinen Ohren wiederholen. Er ist jetzt in Damaskus, in dem berüchtigten Verhörzentrum Far' Filistin. Der syrische Militärgeheimdienst hält hier politische Gefangene fest. "Politische Gefangene!" Kasim seufzt. Und er lächelt. Zynismus ist sein Schutz, er kann es noch immer nicht begreifen. Politik, damit habe er nie was am Hut gehabt. Er habe doch einfach nur frei leben wollen. Zwei seiner älteren Brüder waren politisch aktiv, in einer Partei sogar. Sie sind bis heute spurlos verschwunden. Kasim glaubt, dass sie tot sind. Er hofft es. "Die Vorstellung, dass sie nicht mehr leben ist erträglicher als die, dass sie in einem Foltergefängnis leiden."
Kasim kommt in Isolationshaft. Die Zelle ist 70 Zentimeter breit, 70 Zentimeter lang, 180 Zentimeter hoch. Etwas kleiner als ein Sarg. Er kann hier nicht sitzen, nicht liegen, nicht knien. Nur stehen. Drei Monate lang. Durch einen Schlitz sieht er Neonlicht wabern. Nur zweimal am Tag holen ihn Männer mit schwarzen Masken heraus. Zum Mittagessen, fünf Minuten lang, Weizengrütze, Kartoffeln mit Soße, ein bisschen Wasser. Und wenn er gefoltert wird. Manchmal verbinden sie ihm die Augen, und dann prügeln sie auf ihn ein, von allen Seiten, mit ihren Fäusten oder mit Knüppeln oder der flachen Hand. "Man weiß nie, woher der nächste Schlag kommt", sagt er. Kasims Stimme erhebt sich, er wird lauter, schreit fast, schlägt immer wieder mit der rechten Faust in seine linke Hand. Er senkt das Kinn auf die Brust, wieder wischt er sich über die Stirn.
Manchmal fängt er Sätze auf Deutsch an, "Ich habe damals ...", "Es war so ...", "Ich konnte nicht ...", dann wechselt er ins Arabische. In die Sprache seiner Peiniger, er hat sie lange nicht mehr gesprochen. Es muss sein. Der Dolmetscher spricht kein Kurdisch. Er ist Deutscher, deswegen fühlt Kasim sich einigermaßen okay. Mit Arabern will Kasim nichts mehr zu tun haben.
Eines Tages kann er zum ersten Mal ein Gesicht sehen. Es ist das erste seit Wochen. Kasim sitzt in einen Autoreifen gezwängt, die Beine angewinkelt, die Arme auf dem Rücken festgebunden. Dullap nennen die Syrer diese Foltermethode. Wieder wird er geschlagen, diesmal mit einer Peitsche, auf die nackten Fußsohlen, den Rücken, den Hintern, da erblickt er für einen Moment diese Augen. Die großen, strengen Augen, kantige Wangen, einen schwarzen Anzug. Es ist der Befehlshaber.
Manchmal glaubt er ihn hier in Berlin zu sehen. An einer Ampel, in einem Supermarkt, vor seiner Wohnung. Menschen, die ihm nur ein wenig ähneln, ein Auto, das neben ihm zum Stehen kommt - und plötzlich ist alles wieder da. Die Haft, die Folter, die Schläge, die Angst. Und die Kopfschmerzen. Die habe er irgendwann bekommen, in der nasskalten Zelle ohne Tageslicht. Sie gehen nie wirklich weg, kommen immer nur wieder. Kein Arzt hat bislang eine Lösung gefunden. Er breitet die Arme aus, als wolle er sagen: Wie auch?
Fast zehn Wochen ist Kasim nun schon in Far' Filistin. Die Folterknechte jagen ihm gerade in regelmäßigen Abständen Strom durch den Körper, als er sie anfleht: "Ich will einmal richtig sterben, nicht tausende Male ein bisschen. Bitte bringt es endlich zu Ende." Sie bringen es nicht zu Ende. Sie bringen ihn nur wieder in seine Zelle. "Mein einziger Wunsch war es, zu sterben", sagt Kasim. An andere Dinge habe er nicht mehr denken können. Die Gesichter seiner Liebsten, die Blumen auf der Terrasse in seinem Dorf, die Kleider, die er genäht hatte - alles vergessen. Für die Welt da draußen hatte Kasim keine Bilder mehr.
Nach drei Monaten wird er freigekauft, für 7000 Euro. Seine Familie hatte das letzte Rest Land, das noch nicht enteignet war, die letzten Schafe, die noch nicht geraubt worden waren, verkauft. Ohne dieses Geld wäre er wohl nie herausgekommen. Kasim ist abgemagert, die Arme wie Weidenzweige, der Bart lang. Seine Mutter ist froh, ihren jüngsten Sohn wieder bei sich zu haben. Aber das Leben in Syrien, sagt Kasim, war für ihn kein Leben mehr.
Im März 2007, kurz vor dem kurdischen Frühlingsfest Newroz, hält er es nicht mehr aus. Diese ständige Angst, wieder verschleppt zu werden, die Sorge, noch einen Bruder zu verlieren. Oder eine Schwester, so wie die älteste, die sich umbrachte, weil sie es nicht ertrug, dass ständig einer ihrer Brüder spurlos verschwand. Kasim, der Schneider, beschließt ziemlich genau ein Jahr nach dem Tag, an dem ihm sein altes Leben genommen wurde, ein neues zu beginnen. In Deutschland. Gemeinsam mit seiner schwangeren Frau.
Vor viereinhalb Jahren kamen die beiden nach Berlin. Sie leben jetzt in einer Zweizimmerwohnung im Westen, ihre Kinder, ein Junge und ein Mädchen, gehen in die Kita. Beide sind in Berlin geboren, sie sollen mehrsprachig aufwachsen. Chancen bekommen, das zu tun, was sie sich wünschen. In die Welt hinausziehen. Kasims Deutsch wird immer besser. Er versuche Zeitungen zu lesen und auch Bücher, sagt er, vor allem aber schaue er sich die Werbeprospekte an. Gurke, Tomate, Wurst, Milch, Radieschen, Wörter, die er wirklich braucht. Er ist einer von rund 30 000 Flüchtlingen, die pro Jahr in Deutschland landen. Seit kurzem hat er einen festen Aufenthaltsstatus. Arbeiten darf er seither auch, einen Job hat er schnell gefunden, sogar in Vollzeit, als Schneider. Wie damals auf dem Dorf in Nordsyrien. Eine saubere, filigrane Arbeit sei das, sagt Kasim. Er liebt sie wie früher. Ein richtiger Schneider verstehe etwas von der Beschaffenheit der Stoffe, von der Seele eines Kleidungsstücks - "es ist mehr als nur Kürzen." Er ist gut, seine Chefin sage ihm das oft.
Dass Kasim über sein Leben sprechen kann, liegt zum großen Teil an der Therapie am Behandlungszentrum für Folteropfer (Bzfo). Die habe ihm sehr geholfen, sagt er. Er wisse nicht, ob er es ohne die Gespräche geschafft hätte. "Ich wäre sonst wohl verrückt geworden." Er schaut zur Decke, als suche er dort jemanden, dem er danken kann. Die Psychologen und Sozialarbeiter des Bzfo erstellten das Gutachten, das letztlich dazu führte, dass Kasim vorerst in Deutschland bleiben darf. Das ihn als Menschen ausweist, dem in seinem Heimatland Folter und Lebensgefahr drohen. Eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund eines Abschiebehindernisses nennen das die Behörden.
Pro Jahr kümmern sich die Mitarbeiter des Bzfo um die Traumata von rund 500 Folteropfern aus mehr als 50 Ländern. Die meisten Patienten kommen aus der Türkei, Tschetschenien, Iran, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Das Schwierigste dabei sei, das Vertrauen der Patienten zu gewinnen, sagt Claudia Kruse, die Kasim in einer Nachsorgegruppe betreut. "Wir kriegen oft die Rückmeldung, dass die Patienten es zum ersten Mal in ihrem Leben erleben, dass jemand da ist, der zuhört und wirklich helfen will", sagt sie. Bei manchen Folteropfern dauere das mehrere Jahre.
Auch für Kasim ist es nicht einfach, Vertrauen zu fassen. Freunde hat er keine in Deutschland, "wie könnte ich auch jemals einem Freund mein Leben erzählen?". Er mag Berlin, "Mensch ist hier Mensch", sagt er, aber zur Ruhe komme er auch hier nicht. Die Syrer haben ja schließlich eine Botschaft in der Stadt, wer könne ihm da Sicherheit garantieren?
Hin und wieder haben Kasim in den letzten Monaten und Jahren Mails seiner alten Freunde erreicht. Manchmal erzählten sie ihm, dass schon wieder einer seiner Brüder verschwunden sei. Kasim hat 14 Geschwister, wer gerade wo ist, wer überhaupt noch lebt, er weiß es nicht genau. Aber er will auch lieber nicht zu viel daran denken. Es sei schwierig genug, das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen. Kasims Schultern fallen jetzt nach vorne. Es ist, als wollten sie sagen: So, das war's, mehr habe ich nicht. Er schaut aus dem Fenster, weißer Rauch weht vorbei. Kasim sagt, das Einzige, was er wirklich an seiner Heimat vermisse, sei das, was jedem Sohn fehle: Das Essen seiner Mutter. Sonst habe er in Syrien nichts Schönes gesehen. Ob er sich trotzdem vorstellen könne, eines Tages dorthin zurückzukehren? Er stöhnt, überlegt lange, bevor er antwortet. Dann sagt er: "Wenn man mich abschiebt oder wenn man mich mit Gewalt dort hinschleppt. Syrien ist schlimmer als der Tod." Er wischt sich mit der Hand über die Stirn. Die Kopfschmerzen sind wieder da.
* Name von der Redaktion geändert
Quelle....
Silav û Rêz
Azad